Neonregen (Detective Dave Robicheaux) (German Edition)
›Vergiß alles. Das einzige, was wirklich zählt, ist die Tatsache, daß du noch auf der Erde bist und atmest.‹«
»Nur, daß du das nicht glaubst.«
»Jeder Mensch muß so handeln und denken, wie es für ihn richtig ist. Ich kann nicht diesen ganzen Blödsinn kontrollieren. Ich habe nicht damit angefangen. Im Gegenteil, ich habe versucht, mich aus allem rauszuhalten. Leider hat es sich anders ergeben.«
Ich sah die Trauer in ihren Augen und nahm ihre Hände.
»Leid tut es mir bloß, daß ich dir so viele Probleme gemacht und dich da reingezogen habe«, sagte ich. »Aber das ist die Malaise eines jeden Polizisten.«
»Alle Probleme, die ich mit dir habe, sind Probleme, die ich haben will.«
»Du verstehst nicht ganz, Annie. Als ich dir vorhin diese Sache mit Biloxi erzählt habe, da hab ich dich zum Mitwisser gemacht. Ich glaube, ich wußte längst, was ich tun muß, als ich heut abend hierherkam. Es ist besser, wenn ich mich jetzt auf den Weg mache. Ich ruf dich später an.«
»Wo willst du hin?«
»Ich muß ein paar Dinge ins reine bringen. Mach dir keine Sorgen. Irgendwie kommt vor dem neunten Rennen immer alles wieder ins Lot.«
»Bleib hier.«
Sie erhob sich vom Tisch und sah auf mich herab. Ich stand auf und legte meine Arme um sie, spürte, wie sich ihr Körper an meinen schmiegte, fühlte, wie er unter meinen Händen klein und zart wurde, spürte ihren Kopf unter meinem Kinn. Ihr in einer Sandale steckender Fuß schlängelte sich um meinen Knöchel. Ich küßte ihr Haar und ihre Augen, und als sie sie wieder öffnete, sah ich in ihnen nur noch eine elektrisierende Bläue.
»Laß uns reingehen«, sagte sie. Ihre Stimme war ein sanftes, schweres Flüstern in meinem Ohr, ihre Finger strichen leicht über meinen Oberschenkel, so daß es sich anfühlte wie die sanfte Berührung eines Vogelflügels.
Später, in der Dunkelheit ihres Schlafzimmers, die nur durch den orangen und violetten Schimmer des Sonnenuntergangs hinter den halb geschlossenen Jalousien erhellt wurde, lag sie mit dem Kopf auf meiner Brust und streichelte mit der Hand über meine Haut.
»Eines Tages wird auch dein Herz ruhig werden«, sagte sie.
»Es ist bereits ruhig.«
»Nein, ist es nicht. Du denkst schon wieder an den Rest der Nacht. Aber eines Tages wirst du spüren, wie der Druck von dir weicht.«
»Es gibt Leute, die nicht so gebaut sind.«
»Und wie kommst du darauf?« fragte sie mit leiser, ruhiger Stimme.
»Weil ich lange Jahre damit verbracht habe, mich selber auseinanderzunehmen, habe ich zwangsläufig ein bißchen drüber gelernt, was in meinem Kopf abläuft. Ich mag die Welt nicht so, wie sie ist. Ich sehne mich nach der Vergangenheit zurück. Und das ist einfach närrisch.«
Ich verlies Annies Haus und fuhr zum Dominikanischen College von St. Mary’s, wo Captain Guidry mit seiner Mutter in einem alten, viktorianischen Haus nicht weit vom Ufer des Mississippi weg lebte. Es war ein gelbes Haus, das dringend einen neuen Anstrich vertragen konnte. Der Rasen war nicht gemäht, die untere Galerie von Bäumen und ungeschnittenen Sträuchern überwuchert. Die Fenster waren dunkel, mit Ausnahme des flackernden Scheins, der vom Fernsehgerät im Wohnzimmer kam. Ich öffnete das Gartentor und ging den mit geborstenen Steinplatten gepflasterten Weg entlang auf die vordere Veranda zu. Der Schaukelsitz hing an rostigen Ketten, und die Türklingel bestand aus einem altmodischen Drehgriff.
»Dave, was machen Sie hier draußen?« begrüßte er mich, als er die Tür öffnete. Er trug ein zerknittertes Sporthemd, Slipper undalte Hosen mit Farbflecken. In der Hand hielt er eine Tasse mit einem Teebeutel.
»Tut mir leid, daß ich Sie zu Hause belästigen muß. Ich muß dringend mit Ihnen sprechen.«
»Natürlich, kommen Sie rein. Meine Mutter ist grade zu Bett gegangen. Ich will mir eben ein Baseballspiel im Fernsehen angucken.«
Das Wohnzimmer war dunkel. Es roch nach Staub und Menthol und stand voller Möbel aus dem neunzehnten Jahrhundert. Das Mobiliar war allerdings nicht antik, sondern nur alt, ebenso wie die diversen Uhren, Vasen, religiösen Bilder, Bücher ohne Umschlag, mit Kordeln und Troddeln geschmückten Kissen und die Stapel von Zeitschriften, die jeden Zentimeter freien Platz einnahmen. Ich setzte mich auf einen tiefen, gepolsterten Stuhl, dessen Armlehnen schon ziemlich abgeschabt und fadenscheinig aussahen.
»Wollen Sie einen Tee oder lieber ein Dr. Pepper?« fragte er mich.
»Nichts, vielen
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