Neonregen (Detective Dave Robicheaux) (German Edition)
ächzen und stöhnen. Dann brach der gelbe Ball der Sonne durch die Wolkendecke und überflutete die Brücke mit hellem Licht, und aus irgendeinem Grund sah ich weit weg in meinem Kopf einen schwarzen Schwarm Urwaldvögel mit großem Lärm in einen heißen tropischen Himmel steigen.
Später saß ich unter einem Sonnenschirm auf dem Deck meines Hausbootes und versuchte, den Tag und meinen Verstand mit Hilfe einer Flasche Jax wieder auf die Reihe zu kriegen. Es gelang mir nicht besonders gut. Das Sonnenlicht wurde von der Wasseroberfläche wie von einem Spiegel reflektiert und blendete meine Augen. Ich hatte das Bedürfnis, Annie anzurufen und mich bei ihr zu entschuldigen, aber wie soll man einem anderen Menschen erklären, daß das Verlangen nach Alkohol stärker sein kann als das Verlangen nach Liebe? Und ehrlich gesagt, hatte ich in diesem Augenblick weder den nötigen Mut noch die Energie, um mich mit meiner Verantwortungslosigkeit und Schwäche auseinanderzusetzen. Statt dessen dachte ich angestrengt über die Relativität der Zeit nach und über die grausame Erkenntnis, daß mich auch noch so viele Jahre nicht endgültig von meiner alptraumhaften Vergangenheit als Alkoholiker befreien konnten, daß Philip Murphys Cocktail mich mit einem Schlag zurückgeworfen hatte in eine surreale Welt, die von Drachen und anderen Ungeheuern bevölkert wurde.
Ich dachte auch über meinen ertrunkenen Vater nach und fragte mich, was er in meiner Situation getan haben würde. Er war ein stattlicher, kräftiger Mann gewesen, ein dunkelhäutiger, lachender Cajun mit weißen Zähnen und türkisfarbenen Augen, der mit boudin, cush-cush und Hornhechtklößchen großgezogen worden war. Er hatte als Pelzjäger und Fallensteller auf Marsh Island und als Kranführer hoch oben auf den Ölbohrinseln imGolf gearbeitet und sein Bestes getan, um für mich und meinen Bruder Jimmie zu sorgen, nachdem Mutter mit einem bourée- Spieler aus Morgan City durchgebrannt war. Wenn er aber gerade keine Arbeit hatte, dann trank er ziemlich viel und prügelte sich hin und wieder in der Kneipe und landete im Kreisgefängnis. Die weiße Strähne in meinem und Jimmies Haar, der ich meinen Spitznamen »Streak« verdankte, war die Folge eines Vitaminmangels, der auf mangelhafte Ernährung zurückzuführen war. Aber auch in schlechten Zeiten konnte er ungeheuer phantasievoll und freundlich sein auf eine Weise, die wir nie vergessen würden. Am Abend des Halloween-Festes, wenn die Pecan-Bäume schwarz und mächtig vor dem orangen Himmel standen, brachte er geschnitzte Kürbisse, abgeschnittene Zuckerrohrenden und Unmengen von warmen Lebkuchen mit nach Hause, und an unseren Geburtstagen fanden wir neben unserem Teller mit cush-cush und boudin ein paar Minié-Kugeln oder indianische Pfeilspitzen aus Rosenquarz und einmal sogar einen rostigen alten Revolver der Konföderiertenarmee, den er am Bayou Teche ausgegraben hatte.
In der Regel redete er französisch mit uns, und er unterhielt uns lange Jahre hindurch mit einer endlosen Zahl von Lebensweisheiten, Ratschlägen und Volkserzählungen, die er, wie er immer sagte, von seinem Vater gelernt hatte, die er aber meiner Meinung nach einfach aus dem Stegreif erfand, wenn sich die Situation gerade ergab. Hier ein paar aus dem französischen Idiom übertragene Beispiele:
– Du sollst niemals was tun, was du nicht tun willst, das sollst du.
– Wenn alle die gleiche Meinung über was haben, muß es falsch sein.
– Statt des Adlers hätte man lieber die Languste zum Symbol Amerikas machen sollen. Wenn man einen Adler auf ein Eisenbahngleis setzt und es kommt ein Zug, was wird der Adler tun? Er wird wegfliegen, das wird er tun. Aber setz eine Languste auf die Schienen, und was wird sie tun? Sie wird die Scheren aufrichten, um den Zug aufzuhalten, das wird sie tun.
Aber er gab uns auch einen wirklich ernstgemeinten Ratschlag,und ich konnte beinahe wieder seine Stimme flüstern hören von da draußen, aus der grünen Tiefe des Golfs: Wenn du schon das ganze Marschland durchkämmt hast auf der Jagd nach dem riesigen Alligator, der dein Schwein verschlungen hat, und du ihn trotzdem nicht gefunden hast, dann geh zu dem Punkt zurück, von dem aus du angefangen hast zu suchen, und fang von vorne an. Du bist bestimmt direkt auf ihn getreten, ohne ihn zu sehen.
Wahrscheinlich hat kein Polizist je einen besseren Ratschlag bekommen.
Ich verschlief den Rest des Nachmittags und wachte erst in der abkühlenden Abenddämmerung
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