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Neonregen (Detective Dave Robicheaux) (German Edition)

Neonregen (Detective Dave Robicheaux) (German Edition)

Titel: Neonregen (Detective Dave Robicheaux) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Lee Burke
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wenn ich sie nicht zuerst finde. Darauf kannst du wetten.«
    »Meine Urgroßeltern waren ein Teil der Underground Railway , die entlaufenen Sklaven zur Flucht in den Norden verhalf. Quantrills Mordbanden haben ihre Hütten eingerissen und ihre Getreidefelder verbrannt. Jahre später, nachdem Quantrill und Bloody Bill Anderson und Jesse James tot waren, zogen sie in einem freien Staat ihre Kinder auf und bauten russischen Weizen an.«
    »Aber vorher kam jemand und setzte Quantrill und seine Horde schachmatt, und das war die Kavallerie der Regierung.«
    Ich lächelte sie an, aber im Licht der elektrischen Birne, die in dem Seifenbaum hing, nahm ihr Gesicht auf einmal einen betrübten Ausdruck an. Ich vergaß plötzlich jeden Gedanken anManieren oder Zurückhaltung oder an die Tatsache, daß ihr Freund jeden Moment auftauchen konnte. Ich stellte die Flasche Cold Duck auf den Glastisch und legte die Pralinen daneben und nahm sie dann in die Arme und küßte ihr lockiges Haar. Aber sie reagierte nicht. Ihre Schultern verkrampften sich, sie senkte den Blick und ließ die Arme wie tot am Körper hängen.
    »Ruf mich morgen an«, flüsterte sie.
    »Bestimmt.«
    »Ich mein’s wirklich ernst.«
    »Ich werde anrufen, ich versprech’s.«
    »Mir ist einfach nicht besonders gut heute abend. Morgen wird’s anders sein.«
    »Ich laß dir die Pralinen hier. Ich ruf dich morgen früh an. Vielleicht können wir zusammen im Café du Monde frühstücken.«
    »Klingt gut«, antwortete sie, aber ihr Blick blieb verschleiert, und ich konnte nicht in ihren Augen lesen. So sehr sie auch fasziniert sein mochte von den Merkwürdigkeiten des Lebens, im Grunde ihres Wesens hatte sie doch das gute Herz eines kleinen Mädchens aus dem Mittleren Westen.
    Als ich draußen auf dem Gehsteig stand, kam mir ein junger Mann entgegen, der aussah wie ein Student der höheren Semester an der Tulane Universität. Er trug cremefarbene Hosen, ein hellblaues Hemd und eine gestreifte Krawatte. Er hatte ein freundliches Lächeln und ein offenes Gesicht. Ich fragte ihn, ob er bei Annie Ballard zum Dinner eingeladen sei.
    »Ganz recht«, antwortete er und lächelte mich an.
    »Nun, dann nehmen Sie das hier mit«, sagte ich und gab ihm die Flasche Cold Duck. »Die Polizei gibt heut abend einen aus.«
    Irgendwie war das eine sehr alte Geste, und ich kam mir schon im nächsten Augenblick ziemlich albern und unhöflich vor. Aber dann erinnerte ich mich an den Wahlspruch eines meiner vorgesetzten Offiziere damals in Vietnam, der jeden gordischen Knoten mit dem einfachen Satz durchzuschlagen pflegte: »Scheiß drauf, wer will schon ein guter Verlierer sein.«
    Als ich an diesem Abend im Archiv der Times Picayune saß und die vergilbten Seiten alter Zeitungen umblätterte oder Mikrofilme durch das Lesegerät schob, machte ich mir Gedanken darüber, welch zweischneidige Rolle die Vergangenheit in unseremLeben spielt. Um uns von unserer Vergangenheit zu befreien, so dachte ich, behandeln wir sie wie eine verblassende Erinnerung. Gleichzeitig ist die Vergangenheit jedoch das einzige, was uns eine gewisse Identität verleiht. Es ist durchaus nichts Geheimnisvolles an unserem Selbst – wir sind einfach das, was wir tun und wo wir gewesen sind. Aus diesem Grunde sind wir darauf angewiesen, uns die Vergangenheit ständig und immer aufs neue vor Augen zu führen, ihr ein Denkmal zu setzen und sie am Leben zu erhalten, damit wir nicht vergessen, wer wir eigentlich sind.
    Für manche von uns sind selbst die dunkelsten Stunden noch besser als die wenigen kurzen Augenblicke von Frieden und Sonnenschein in der Welt. Warum das so ist, weiß Gott allein. Ich mußte an die Anhänger Pancho Villas denken, die seine Ermordung und das Ende seiner Ära der Gewaltherrschaft nicht akzeptieren konnten und seinen Leichnam ausgruben, den Kopf vom Körper trennten und ihn in ein riesiges Glasgefäß mit weißem Rum einlegten. Dann transportierten sie das Gefäß mit dem Kopf in einem Ford T-Modell in die Van-Horn-Berge außerhalb von El Paso, wo sie es unter einem Haufen oranger Steine versteckten. Jahrelang entfernten sie nachts wieder die Steine, tranken Mescal und rauchten Marihuana im heißen Nachtwind und redeten mit seinem aufgedunsenen, grinsenden Gesicht, das in dem Glasgefäß schwamm.
    Hier hatte ich es jedoch mit einer anderen dunklen Episode der Geschichte zu tun. Es war nicht schwer gewesen, den pensionierten Zweisternegeneral ausfindig zu machen. Sein voller Name lautete Jerome

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