Neonträume: Roman (German Edition)
oder total stoned. Die Tränen fließen über seine Wangen, er scheint jede Kontrolle über sich verloren zu haben. » Andrej? Du? Was willst du hier?«
» Ich hab gehört, dass jemand heult und… und da bin ich halt reingekommen«, sage ich leise.
» Und wozu? Was willst du jetzt hier?« Er wird von heftigen Krämpfen geschüttelt, so dass er kaum sprechen kann. » Was willst du von mir, verdammte Scheiße? Hab ich dich vielleicht gerufen? Wer hat dir gesagt, dass du hier reinkommen sollst?«
» Alter, alles okay«, versuche ich ihn zu beruhigen. » Wenn du willst, gehe ich sofort wieder, kein Problem. Ich dachte bloß… na ja, vielleicht kann ich dir ja irgendwie helfen oder so…«
» Helfen?« Ljocha glotzt mich mit geweiteten Pupillen an, und für einen Moment denke ich, dass ich mich tatsächlich möglichst schnell verdünnisieren sollte, sonst schlägt er mir gleich den Schädel ein. Und anschließend würde er wegen geistiger Unzurechnungsfähigkeit auch noch freigesprochen werden. Aber plötzlich senkt er seine geröteten Lider und spricht weiter:
» Mir kann man nicht helfen. Mir ist schlecht. Einfach nur schlecht. Ich möchte nur noch kotzen.«
» Was ist denn passiert, Alter?«, frage ich in beruhigendem Ton.
» Nichts ist passiert, gar nichts.« Er kichert böse. Plötzlich legt er mir den Arm um den Hals und zieht mich zu sich heran. Ich stecke im Schwitzkasten und höre sein heiseres Krächzen: » Die da draußen, verstehst du, das sind alles Arschlöcher! Es gibt überhaupt nur noch Arschlöcher, verstehst du? Verrottetes Geschmeiß, Kakerlaken, seelische Krüppel, geldgierige Nutten, notgeiles Gewürm, hirnlose Kreaturen! Sieh dich um: Meine Wohnung ist voll davon, du findest hier nicht einen normalen, nicht einen anständigen Menschen! Nicht einen, kapierst du das?«
Ich kapiere, dass Ljocha verrückt geworden ist und mich innerhalb der nächsten zwei Minuten mit seinen stählernen Klauen erdrosseln wird.
» Ljocha…«
» Halt die Schnauze! Du sollst die Schnauze halten, hab ich gesagt!« Gott sei Dank lockert er seinen Griff ein wenig. » Ich bin heute neununddreißig Jahre alt geworden, und weißt du was? An meinem neununddreißigsten Geburtstag habe ich nicht einen einzigen echten Freund. Nicht einen! Seit dreißig Jahren verdiene ich mein eigenes Geld, richtig Geld, verstehst du? Ich besitze mehrere Firmen, Häuser, Wohnungen, Autos– aber keinen einzigen Freund! Diese ganzen Idioten da draußen sind nur hergekommen, um mir den Arsch zu lecken, verstehst du? Die einen wollen irgendwas von mir, die anderen haben Schiss vor mir, das ist alles, das ist die ganze Wahrheit!
» Tja…«, würge ich heraus und versuche, mich vor seinem Atem in Sicherheit zu bringen. Sonst, fürchte ich, geht es mir demnächst so wie ihm.
» Willst du was trinken?«, fragt er unvermittelt.
» Ach, nee, danke, ich glaube, ich habe genug…«
» Trink!« Er gießt Wodka in sein Glas und schiebt es mir hin.
Gehorsam nehme ich ein paar kleine Schlucke. Der ungewohnte Stoff brennt mir im Hals wie Feuer.
» Und jeder bringt mir irgendwelchen Müll mit!« Er nimmt mir das Glas aus der Hand und leert es in einem Zug. » Koks, Schnaps, teure Geschenke, Blumen, sogar Frauen schleppen sie mir an, weil sie so große Stücke auf mich halten!«
Meinst du mich, oder wie? Ich habe gleich zwei angeschleppt, aber eine davon will ich selber haben.
» Ljocha, nimm dir das alles nicht so zu Herzen!« Endlich kann ich mich aus seinem Würgegriff befreien. Ich atme erstmal durch. » Vielleicht meinen sie’s ja auch ehrlich, warum denn nicht?«
» Ehrlich? Ha, ha! Diese Affen? Hast du dir ihre Fressen mal genau angesehen?«
» Ich meine, wieso denn nicht? Wieso sollen sie dir keine Frauen mitbringen? Du bist schließlich Junggeselle! Sie wollen dir damit einen Gefallen tun. Vielleicht ist ja die Richtige dabei, und auf einmal verliebst du dich, heiratest vielleicht sogar…«
Ich habe zwar das Gefühl, dass er recht hat, aber in der gegebenen Situation scheint es mir sinnvoll, Optimismus zu verbreiten.
» Hahaaa! Heiraten? Wen denn? Eine von diesen Schlampen?« Ljocha spuckt zähen, ganz weißen Schleim auf den Teppich. » In eine von denen soll ich mich verlieben, meinst du? Ich soll heiraten? Ich erzähle dir gleich mal was Nettes, Alter, warte mal, just five seconds!«
Er geht zu einem Schrank, kramt eine halbe Ewigkeit darin herum, während ich darüber nachdenke, dass ich den Spruch » just five seconds«
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