Neonträume: Roman (German Edition)
das nutzlose Mikrofon entgegen– es landet zielgenau an seiner Stirn. Der Stier sagt kurz » uff« und setzt sich auf den Hintern. Mit einem schnellen Blick in die Runde habe ich erfasst, dass mir sowohl der Hauptausgang als auch der Weg über die Bühne zur Straße versperrt sind. Ich stecke in der Klemme. Hinter mir höre ich ein Ächzen und bemerke aus den Augenwinkeln, dass der Schläger, den ich mit dem Mikro gefällt habe, gerade wieder auf die Beine kommt, während sein Kumpel noch den Mini-Manger zu einem Paket verschnürt. Im Festzelt herrscht immer noch ein Inferno aus Frauenkreischen, wütendem Gebrüll und Fluchen, und ich stehe einfach nur da wie ein überforderter Hase vor dem Autoscheinwerfer. Gerade, als ich schon bereit bin, mich kampflos in die Hände meines Schicksals zu begeben, fällt mein Blick in einen Winkel, wo die Zeltwand nicht ganz sauber mit dem Boden abschließt: ein schmaler Spalt zwischen mir und der Freiheit. Wie ein geölter Blitz schieße ich darauf zu, werfe mich auf den Boden, zwänge mich unter der Zeltplane hindurch auf die andere Seite– und bin frei! Jemand versucht noch, nach meinem Fuß zu greifen, aber ich schüttel ihn ab und renne los, über den Parkplatz. Hinter mir höre ich die tappenden Schritte der Verfolger, das Klappen von Autotüren, ich lege noch einen Zahn zu und sprinte an den schlafenden Parkplatzwächtern in ihrem Wachhäuschen vorbei auf die Straße. Das Geheul der Motoren erreicht mich am Rande der Leningrader Chaussee. Ich schlage einen Haken und pralle fast mit einem riesigen Jeep mit aufgeblendeten Scheinwerfern zusammen. Jetzt gibt es genau zwei Möglichkeiten: Entweder ich lasse mich von diesem Jeep überrollen– oder von den Autos auf der Chaussee. Die Entscheidung fällt schnell: Wenn der Jeep mich nicht plattmacht, dann die Security-Schläger, die drinnen sitzen– sofern sie mich in die Finger kriegen. Also renne ich auf die Chaussee. Bremsen kreischen, Hupen gellen, aber ich achte nicht darauf, sondern rase blindlings weiter, bis ich, wie durch ein Wunder lebendig, den Mittelstreifen erreiche. Aber zu meinem Entsetzen sehe ich, dass der Jeep mir folgt, quer über die Straße! Ohne nachzudenken, stürze ich weiter, und als ich fast auf dem Fußweg auf der anderen Seite der Chaussee angelangt bin, höre ich hinter mir wieder wildes Hupen und Bremsenquietschen, dann einen dumpfen Knall und das Scheppern von zerdrücktem Blech und splitterndem Glas. Als ich mich umdrehe, bietet sich mir ein sehenswürdiger Anblick: Der Jeep, links und rechts von zwei Limousinen gleichzeitig gerammt, steht quer auf der Fahrbahn. Das Ding sieht aus wie eine zerdrückte Bierdose. So schnell kommen die da jedenfalls nicht raus. Und ich habe nicht die Absicht, so lange zu warten. Schleunigst tauche ich ab in die rettende Dunkelheit des Petrowski-Parks.
Di e Flucht
Die Entscheidung, nach Petersburg abzuhauen, treffe ich unmittelbar nachdem ich meinen Vater angerufen habe. Der Reihe nach wähle ich die Nummern seines Moskauer und seines französischen Handys, aus beiden kommt gleichlautend irgendwas in der Art von » n’est pas disponible« oder so. Ich versuche es auch in seinem Büro, aber dort ist natürlich um diese Zeit außer dem Wachpersonal kein Mensch anzutreffen. Ich hocke in irgendeinem Dickicht im Petrowski-Park, ruhe ich mich aus und komme nach und nach zu der Überzeugung, dass mir eigentlich keine andere Möglichkeit mehr bleibt. Die Geschichte mit Lenas Schwangerschaft ist ein wenig unpassend, aber verglichen mit dem aktuellen Stress eher ein geringfügiges Problem. Was soll’s? Da kann man nichts machen. Nach einer Woche, wenn sich die Lage ein wenig entspannt hat, komme ich zurück, und dann regele ich alles. Blöd ist nur, dass sie wahrscheinlich Wind von der Sache kriegt und beschließt, das Kind zur Welt zu bringen, trotz HIV . Bleibt nur zu hoffen, dass sie sich später angesteckt hat und das Virus beim Test noch nicht nachgewiesen wird. Dann ist es umso wichtiger, dass ich am Leben bleibe. Das Kind braucht einen lebendigen Vater und nicht einen von Berufsschlägern zu Tode geprügelten Möchte-gern-Märtyrer. Fazit: Mach die Fliege! Hau ab! Verpiss dich!
Eine halbe Stunde später wirbele ich mit einem Rucksack in der Hand durch meine Wohnung und packe alles zusammen, was ich für lebensnotwendig erachte: meine Ausweise, mein sorgsam gehüteter Spargroschen von anderthalb tausend Dollar, mein Notebook, zwei Notizbücher, drei T-S hirts, Jeans,
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