Neonträume: Roman (German Edition)
zu gefährlich, das Haus zu verlassen, die Fahrer der Jeeps, die in den Wagen geblieben sind, könnten mich bemerken. Also beziehe ich die strategisch günstigste Position: Ich stecke den Kopf durch die Dachluke, so dass ich die Fläche der Hausdächer im Blick habe und gleichzeitig bemerke, was unter mir im Treppenhaus vor sich geht. Ich schaue auf die Uhr im Display meines Handys: Quälende fünfzehn Minuten vergehen, ohne dass irgendetwas geschieht. Ich habe wahnsinnige Lust, zu rauchen, mein Herz wummert in unmittelbarer Nachbarschaft zu meinem Adamsapfel wie eine durchgedrehte Rhythmusmaschine, mein T-Shirt ist zum Auswringen durchgeschwitzt. Dann endlich höre ich Türenschlagen. Ich krieche rasch aus meiner Luke und robbe vorsichtig zum Rand des Daches vor. Tatsächlich: Beide Jeeps fahren weg. Sekunden später bin ich im Treppenhaus und sprinte die Treppe hinunter. Auf dem vierten Stock mache ich noch einmal halt, spähe aus dem Fenster, um mich davon zu überzeugen, ob die ungebetenen Gäste tatsächlich restlos das Weite gesucht haben, und setze meine Flucht fort. Als ich um die Ecke des Hauses biege, höre ich wieder Motorengeräusche: Einer der Jeeps kommt zurück. Wahrscheinlich haben sie sich doch entschlossen, einen Posten aufzustellen. Tja, zu spät. Ich aktiviere wieder meinen iPod. Mittlerweile empfinde ich die Musik von Katsch schon als eine Art Soundtrack zu meinem Leben:
» Ich erschaffe die Geschichte hier und jetzt,
jeden Tag, jede Stunde, jede Minute, jedes Megabite, jedes Pixel,
wo sind meine hundert Gramm Wodka Frontration?
Mach schon, Walentina, her mit dem Glas!
Gib Bass,
gib Bass,
gib Bass!
Entweder wir kriegen sie,
oder sie uns…«
Um mögliche Verfolger zu verwirren, nehme ich den Weg durch das Labyrinth der Höfe zur Metrostation Sokol. Dort besteige ich das nächste Sammeltaxi, fahre bis zur Station Timirjasewskaja und gehe von dort aus zum Leningrader Bahnhof.
Es wird hell. Der Mittwochmorgen bricht an in Moskau. Ein einsamer Passant hastet die Leningrader Chaussee entlang. Er wendet den Kopf nach links und rechts, als suche er jemanden. Immer wieder bleibt er stehen, tritt in den Schatten einer Toreinfahrt, raucht, geht weiter. Wenn er einen Streifenwagen erblickt oder auch nur ein gewöhnliches Auto, das langsamer als andere fährt, drückt er sich an die Hauswand, verschwindet hinter Sträuchern oder der nächsten Bushaltestelle. Dieser Passant bin ich, Andrej Mirkin, auf meinem Weg in die Stadt Petersburg– ohne Freund, ohne Frau, ohne Job. Ich habe mit meiner Vergangenheit abgeschlossen, die Gegenwart ist ein einziges Chaos, und auf die Zukunft wage ich nicht zu hoffen. Alles kompliziert irgendwie…
Um halb fünf Uhr morgens schwimme ich im Strom namenloser Werktätiger, inmitten all derer, die, anstatt sich in süßen Träumen zu wiegen, ihre geschundenen, geplagten Leiber zu ihrer schlecht bezahlten Arbeit schleppen. Warum schlecht bezahlt? Weil niemand freiwillig um sechs Uhr früh anfängt zu arbeiten, außer den Betreibern illegaler Drogenlabors, Waffenhändlern oder Topmanagern von BBDO , die mit einem British-Airways-Flieger zu ihren Büros in London oder New York fliegen. Alle anderen handeln aus bitterer Notwendigkeit.
Mir fällt auf, dass ich noch nie in meinem Leben so früh mit der Metro gefahren bin. Genau genommen habe ich Leute, die das tun, bisher von Herzen verachtet. Jetzt könnte ich ihnen Hände und Füße küssen, dafür, dass ich mich zwischen ihren Körpern verstecken kann. Nur im Schutze der Menge fühle ich mich halbwegs sicher. Bloß gut, dass sie nicht wissen, was ich früher über sie gedacht habe. Sie würden mich zertrampeln, zerfetzen, bei lebendigem Leibe auffressen. Vermute ich jedenfalls.
Neben mir steht ein Mann in schwarzen Jeans und schwarzem T-Shirt. In der einen Hand hält er eine Bierflasche, in der anderen eine Zeitung. An seinem Gürtel klebt eine Handytasche aus schwarzem Kunstleder. Rechts von mir sitzt ein junger Typ mit willensstarkem Kinn und markanten Wangenknochen, bekleidet mit Sporthose und Turnhemd, auf dem das Logo des Fußballklubs ZSKA aufgedruckt ist. An den Füßen trägt er Sandalen und hellgraue Socken, am linken Oberarm ein Tattoo. Ein George Clooney vom Lande, sieh mal an. Sonst gibt es nichts Bemerkenswertes zu beobachten. Im Grunde ist der Inhalt so eines Metrozuges eine amorphe Masse. Man könnte nicht einmal mit Sicherheit sagen, in welcher Zeit man sich gerade befindet. So wie es aussieht,
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