Neonträume: Roman (German Edition)
herrscht hier immer noch 1995.
An der Station Komsomolskaja steige ich aus. In die Kassenhalle des Leningrader Bahnhofs wage ich mich erst vor, nachdem ich eine gute halbe Stunde lang aus einem geschützten Winkel heraus die Lage gepeilt habe. Vorsichtig schiebe ich mich, immer an der Wand entlang, bis zu den Fahrkartenschaltern vor, wo es zu meiner Verwunderung keinerlei Warteschlange gibt. Dummerweise gibt es auch keine Fahrkarten. Tja, tatsächlich, Petersburg ist eine kultivierte Stadt! Mit Mühe gelingt es mir schließlich, einen Platz im Newski-Express 16.28 Uhr zu erwerben. Was ich mit der verbleibenden Zeit anfangen soll– keine Ahnung. Im Restaurant herumsitzen ist so öde wie gefährlich, zumal ich absolut keinen Hunger habe. Durch die Stadt spazieren wäre noch dämlicher. Schließlich miete ich mir ein Zimmer im Hotel Leningrad, um die Zeit bis zur Abfahrt des Zuges zu verschlafen. Auch das erweist sich als schwieriges Unterfangen. Erst nachdem ich zwanzig Minuten lang auf die junge Dame an der Rezeption eingeredet habe wie auf einen störrischen Esel, rückt sie den Schlüssel zu ihrer » Suite« heraus. Ein anderes Zimmer ist angeblich nicht mehr frei, und auch dieses nur bis um zwölf Uhr. Ich runde meine Rechnung mit einem zusätzlichen Tausender ab, damit das arme Mädchen wieder an das Gute im Menschen glauben kann, bitte sie, mich um drei zu wecken und fahre in den achten Stock hinauf. Als ich mich aufs Bett fallen lasse, ist meine eingebildete Munterkeit wie weggewischt. Schlagartig wird mir bewusst, wie anstrengend es ist, vor einem Haufen Gangster davonzulaufen. Zwei Minuten lang versuche ich noch, mit einem halben Auge in den Fernseher zu gucken, dann drücke ich die Fernbedienung und bin auch schon eingepennt.
Um Viertel nach drei kaufe ich mir in der Hotelhalle eine neue SIM -Karte. Dann quäle ich mir in einem nahe gelegenen Bistro eine lappige Pizza rein. Auf dem Fernsehbildschirm über dem Bartresen läuft Big Brother. Mir ist inzwischen klar geworden, worin die Attraktivität dieser Serie für die Bewohner Russlands besteht. In ihr hat der Traum von einer idealen Welt Gestalt angenommen. Die Teilnehmer dieser Show sind schlichte Gemüter, ihre Sprache ist leicht zu verstehen, und sie sind vor allem typisch. Die männlichen Helden sind gradlinige Jungs mit der richtigen Einstellung zum Leben, die ihr Gegenüber jederzeit mit einem derben Witz für sich einnehmen können, die wissen, wie man eine Frau anfassen muss, die, um es auf einen Nenner zu bringen, Eier in der Hose haben. Die weiblichen Helden verkörpern die Hoffnungen und Sehnsüchte der einfachen russischen Mädel, deren Denken sich im Wesentlichen um das eine dreht: zu heiraten und versorgt zu sein. Ihr Rezept, diesen Zustand zuverlässig zu erreichen, ergibt sich aus folgender Rechnung: Der Weg zu einem Einzelzimmer geht über einen Typen; der Weg zum Titel der Königin der Show geht über fünf Typen; der Weg nach Moskau geht über fünfzehn Typen; nach Europa– hundert.
Nachdem ich das letzte Stück der Pizza zu Pappmaché verarbeitet und in meinen Magen befördert habe, stellt sich meine übliche Laune wieder ein. Vielleicht liegt es an der beschissenen Fernsehshow, vielleicht an den Gästen dieser Kneipe, jedenfalls ist meine frühere Anwandlung von Sympathie für diese Art von Leuten wie weggewischt. Ich will mich auch nicht mehr in der Menge dieser Normalos verstecken. Mir wird übel bei dem Gedanken. Oder heißt das vielleicht, dass ich endlich einmal ausgeschlafen habe?
Ich verlasse das Bistro, schlängele mich durch geparkte Autos zum Leningrader Bahnhof, gehe an den Gleisen entlang bis ganz zum Ende des Bahnsteigs.
Jetzt habe ich den vermutlich wichtigsten Anruf meines bisherigen Lebens vor mir. Mit zitternden Händen hole ich aus meiner hinteren Jeanstasche den Zettel mit der Telefonnummer und der Nummer meines Tests hervor. Das Papier ist schmutzig-grau und zerknittert. Genau wie sein Besitzer. Ich stecke mir eine Zigarette an, tippe die sieben Ziffern ein, warte, trage mein Anliegen vor, werde mit dem Labor verbunden.
» Guten Tag, ich würde gern das Ergebnis meines Tests erfahren.«
» Wann haben Sie die Proben abgegeben?«, fragt eine Samtstimme.
» Am Montag.«
» Ihre Nummer?«
» Achtund… achtunddreißig-neunzehn.« Mein Hals ist staubtrocken.
» Einen Moment, bitte.«
Der Moment kostet mich noch mal ein paar hundert Nervenzellen. Ich schlucke, um meinen trockenen Hals zu befeuchten, verwerfe
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