Neonträume: Roman (German Edition)
den Wunsch, aufzulegen, kratze mich am Hals wie ein Straßenköter.
» So, da haben wir es«, höre ich endlich die Stimme der Dame am anderen Ende.
» Und?«, krächzte ich.
» Positiv«, sagt die Ärztin leise.
» Sind Sie ganz sicher?«
» Ihre Nummer ist 3819?«
» Ja! Bitte! Schauen Sie noch einmal nach!«
» Das habe ich bereits getan. Bitte regen Sie sich nicht auf. Es handelt sich um einen Schnelltest, der allein liefert kein sicheres Ergebnis. Sie sollten noch…«
Aber ich will gar nicht wissen, was ich sollte. Ich weiß auch so, dass ich mich aufhängen sollte. Mit Watteknien schleppe ich mich zum Zug, den Blick stumpf geradeaus gerichtet, ohne irgendetwas um mich herum wahrzunehmen. Meine Verfolger interessieren mich nicht mehr, sie sind in meinem Bewusstsein zu kleinen Spielzeugsoldaten zusammengeschrumpft.
Über dem Bahnsteig lastet eine unerträgliche Schwüle. Ich rauche, trinke Wasser aus einer Plastikflasche, spucke dann und wann auf die Gleise. So kann man vor die Hunde gehen.
Endlich kommt der Zug. Wie durch einen dichten Nebel bewege ich mich vorwärts, an drei Schaffnern vorbei, die mich jedes Mal weiterschicken. Die Schaffnerin des vierten Wagens lächelt mich höflich an und sagt:
» Sie haben Platz Nummer acht!«
Aus irgendeinem Grund bilde ich mir ein, dass sie meine Fahrkarte überhaupt nicht angeschaut, sondern ihre Hand ganz schnell zurückgezogen hat, als ich sie ihr reichen wollte. Das nennt man Ausgrenzung und Stigmatisierung hilfsbedürftiger Bürger!
» Danke«, knurre ich und steige ein.
Kurz darauf setzt sich der Zug in Bewegung und bringt mich fort aus dieser Stadt, in der es mehr Porsche Cayennes gibt als Geldautomaten.
Meine Mitreisenden sind eine ziemlich muffige Gesellschaft. Drei Männer und zwei Frauen, dem Aussehen nach Geschäftsreisende. Mein Platz befindet sich am Fenster, was ich begrüße. So kann ich wenigstens die Landschaft betrachten, schlafen werde ich sowieso nicht. Die Frauen glotzen in den Fernseher, die Männer besprechen das letzte Fußballspiel von Zenit St. Petersburg. Eine ganz normale Zugfahrt. Ich blättere in den Zeitungen, gehe aufs Klo, rauche ab und zu auf der Plattform eine Zigarette. Dann bummele ich ins Zugrestaurant, kaufe mir eine Tafel Schokolade und eine Halbliterflasche dagestanischen Weinbrand, der wenig vertrauenserweckend aussieht, obwohl es auch französischen Cognac gibt. Ich nehme ein paar Schluck, esse dazu die Schokolade. Dann schalte ich den iPod an, lehne mich in meinem Sitz zurück und schließe die Augen.
» Vera– Arsch aus Guttapercha.
Bela– wenig Hirn, viel Körper.
Lena– färbt ihre Möse mit Henna.
Rita– säuft jeden Tag zwei Liter.
Katja– liebt nur Bodhisattva.
Anna– schmeckt wie himmlisches Manna.
Sweta– lutscht jeden Zentimeter.
Soja– treibt den ganzen Tag Yoga.
Jula– fährt gern aus dem Ruder.«
Es ist wie im Märchen! Wie oft habe ich dieses Stück gehört und nie bemerkt, dass es von mir handelt! Die Namen der Mädchen sind eins zu eins identisch, und die Beschreibungen auch. Dieselbe Liste hätte ich auch abliefern können. Nur leider befürchte ich, dass sie nicht mehr fortgesetzt wird.
Aber eins ist mir klar: Schuld daran bin ich selbst. Jetzt habe ich keinen Zweifel mehr daran, dass es mit mir gar nicht anders enden konnte. Das Fazit meines Lebens lautet: Ich bin ein Arschloch! Tolle Leistung, was? Und das in meinem Alter!
Ich rauche noch ein paar Zigaretten, besorge mir noch eine Flasche Schnaps und vergrabe mich in meinen Erinnerungen. Wie hat das eigentlich alles angefangen? Wie habe ich Lena, Rita, Katja kennengelernt? Ich lasse den Film langsam zurücklaufen, bis zu den Ereignissen, die der Begegnung mit den dreien vorangingen, aber dann beschließe ich, mich nicht länger zu quälen, und wende mich dem Fernsehbildschirm zu. Dort läuft gerade eine Talkshow mit dem ansprechenden Namen Lästerschule. Awdotja Smirnowa diskutiert mit tiefer Trauer in der Stimme mit einer Tante, die aussieht wie eine Verlegerin, über das Thema der ewigen Diskrepanz zwischen der inneren Welt der Intellektuellen und der Welt ihres Broterwerbs. Gerade erzählt die Tante Verlegerin mit bebender Stimme von den Widrigkeiten, die ihr schon so viele Jahre lang das Leben schwermachen.
» Das ist unser Schicksal«, pflichtet ihr Smirnowa bei. » Das Schicksal der russischen Intelligenzija.«
Die Kamera zoomt näher, geht dicht auf ihr unnatürlich blasses Gesicht, in dem ihre Augen voller
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