Neonträume: Roman (German Edition)
Absturz vermieden habe. Rita fällt mir über den Tisch hinweg um den Hals, die Teller scheppern, Nudeln und Salat spritzen schmatzend auf, hemmungslos schluchzend klammert sie sich an mir fest und sagt immer nur: » Bitte, bitte, sag jetzt nichts, Andrej, sag nichts, ich bitte dich! Ich liebe dich!« Und ich sage auch nichts (was bleibt mir anderes übrig?), denke bloß, was wir für eine wunderschöne Schlussszene gerade hinlegen. Das perfekte Happyend. Wie zur Bestätigung meiner Gedanken erklingt irgendwo im Hintergrund des Gastraumes matter Applaus. Wahrscheinlich die Kellner, wer sonst? Schicksalsergeben schließe ich die Augen, halte Rita fest in meinen Armen und versuche, den kleinen fiesen Gedanken zu verscheuchen, der in meinem Hinterkopf sitzt und mich piekst: Du verdammter Idiot, das war so eine wunderbare Gelegenheit, sie loszuwerden!
Alles, was ich jetzt tue, tue ich im Namen der Musik, rechtfertige ich mich vor mir selber.
Jetzt, da sich der Schleier des Missverstehens gehoben hat und wir uns ausgesprochen haben, da wir beide uns wie neugeboren fühlen, jetzt, da alle gegenseitigen Vorwürfe aus der Welt geräumt sind und wir spüren, dass einer ohne den anderen nicht leben kann, jetzt wollen wir nichts anderes mehr als diesen Abend gemeinsam zu verbringen und so weiter. So ungefähr dürfte Rita die Sache sehen.
Jetzt, da ich den Schwanz eingezogen habe und der Gegner, den Moment der Schwäche nutzend, mir das Messer an den Hals gesetzt hat, empfinde ich statt Erleichterung nichts als Wut, und anstatt das Gefühl der Freiheit zu genießen, denke ich wieder daran, dass mein Problem immer noch nicht gelöst ist. Ich habe nichts zu erwarten, als diesen Abend in trauter Gemeinsamkeit mit Rita zu verbringen. So sehe ich es.
Klar ist jedenfalls: Dieser Abend ist unrettbar verloren. Der Kellner bringt den Kaffee und sieht uns fragend an. Pustekuchen! Was für eine billige Show! Ohne die Rechnung zu verlangen, werfe ich drei Tausender auf den Tisch, nehme Rita an der Hand und schleppe sie hinter mir her aus dem Lokal. Drei Fragen sind es, die mich jetzt beschäftigen: Erstens: Habe ich zu viel bezahlt? Zweitens: Hätten wir nicht wenigstens den Kaffee austrinken sollen? Drittens: wohin jetzt?
Rita hat dann die Idee, ins Shanti zu fahren. Wir müssen ewig lange nach einem Taxi suchen, quetschen uns endlich in einen schäbigen Japaner, und kaum sitzen wir, klammert sich Rita an meine Schulter. Dann geht es wieder los. Als Erstes erklärt sie mir des Langen und Breiten, wie gut sie mich verstehe (in welcher Hinsicht?), wie leicht man doch einen Menschen, den man liebt, mit einer einzigen unbedachten Äußerung, einem groben Satz verletzen könne (ich hab mehrere solcher Sätzen parat), berichtet, wie sie beinahe den Verstand verloren hätte, als ich sagte: » Vielleicht sollten wir…« Dann begibt sie sich übergangslos an die Beschreibung unseres zukünftigen gemeinsamen Lebens. Mit sämtlichen Details, von der Zuckerdose bis zum Joghurt. Dabei geht ihr das so flink und gewandt von den Lippen, dass ich bald keinerlei Zweifel mehr habe: Das Mädchen kennt sich aus, nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch. Kaum fünf Minuten habe ich ihrem idiotischen Monolog zugehört, da sitzt mir von all dieser Miefigkeit schon eine tiefe Depression im Leibe, nach weiteren zehn Minuten falle ich in den Zustand vollständiger Kryptobiose. Nach außen hin demonstriere ich rege Beteiligung am aktuellen Gespräch: Ich lächele, nicke, sehe mit teilnahmsvollem Blick durch sie hindurch, mache dann und wann kleine Bemerkungen oder Einwürfe à la » Genau!« oder » Ich fasse es nicht« oder » Wahnsinn!« und so weiter.
Ich habe eine besondere, seltene Eigenschaft: Wenn man mich unter extremen Druck setzt, kann ich mein Bewusstsein ausschalten, das heißt, mein Gehörsinn nimmt zwar wahr, was gesprochen wird, ich bin sogar in der Lage, halbwegs sinnvolle Antworten zu geben, aber in Wirklichkeit nehme ich an dem, was um mich herum geschieht, keinerlei Anteil. Genauso ist es auch jetzt: Ich habe mich abgeschaltet.
Aber dann fängt sie an, mir zu erzählen, wie sie vor einem Jahr oder so in Petersburg mit ein paar Bekannten ganz prima unterwegs war. Und diese Bekannten sind gerade zu Besuch in Moskau, plappert sie, da wäre es doch klasse, wenn ich die kennenlernen könnte. Das sind nämlich genauso kreative Leute wie wir, sagt sie. (Das sagt sie tatsächlich! Zuerst dachte ich, sie meint es ironisch, aber von wegen!) Und
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