Nephilim
euer Leben gegen einen Engel verteidigen zu müssen? Wisst ihr nicht mehr, wie es ist, Gras unter den Füßen zu spüren und über eine Sommerwiese zu laufen, unbesorgt und frei? Habt ihr vergessen, dass viele von euch nicht immer hier unten gelebt haben? Erinnert ihr euch an euer altes Leben, ihr, die ihr einst Menschen wart, und wie wertvoll das war, was ihr verloren habt?« Er wandte den Blick, um jeden Einzelnen zu betrachten, schweigend und mit dieser Sehnsucht in den Augen, die jedes seiner Worte schimmern ließ wie unter dem Einfall von Sonnenstrahlen. »Ist es schon so weit gekommen, dass ihr glückliche Sklaven der Nacht geworden seid?« Er schüttelte den Kopf, als sein Blick auf Nando fiel, und ein sanftes, trauriges Lächeln glitt über seine Lippen. »Verzeih mir, Teufelssohn, wenn ich das Leben dieser vielen über dein einzelnes stelle«, sagte er leise. »Es mag nicht gerecht sein, doch seit unserer letzten Zusammenkunft in diesem Rund haben sich die Dinge geändert. Dein Tod wäre nun unsere Freiheit.«
Ein verächtliches Zischen flog über die Reihen und schlug Ayus beinahe körperlich ins Gesicht. »Und was für eine Freiheit soll das sein?«, rief Morpheus, und obgleich Ayus einige Reihen über ihm saß, schien es, als würde er auf diesen herabschauen. »Freiheit gegründet auf Tod und Verderben in einer Welt des Teufels? Denn beides wird jeden treffen, der ihm nicht folgen wird, sobald die Hölle entfesselt ist! Halleluja!« Er schüttelte den Kopf und schaute mit aufeinandergepressten Zähnen von einem zum anderen. Selten hatte Nando ihn im Zorn erlebt, und noch nie hatte er diesen Schatten auf seiner Stirn gesehen, der sich Enttäuschung nannte. »Ich sagte es schon damals«, fuhr Morpheus fort, und ein boshaftes Lächeln stahl sich auf seine in bitterem Spott verzogenen Lippen, »und ich wiederhole es gern: Ihr seid allesamt Idioten.« Empörtes Raunen flog durch die Reihen, doch Morpheus ließ sich nicht beeindrucken. »Nando ist ein Nephilim!«, rief er gegen den Tumult an und brachte ihn zum Schweigen. »Er ist ein Teil Bantoryns, und wenn ihr ihn an den Feind ausliefert, tut ihr damit nur eines: Ihr werdet das zerstören, was unsere Stadt begründet hat, nämlich den Zusammenhalt gegen den gemeinsamen Feind! Hat euch euer Zorn so weit gebracht, dass ihr mit dem Teufel paktieren wollt, um die Herrschaft der Engel zu beenden? Ihr macht unserem Bund Schande, das meine ich ernst, und ich, der sich noch nie für irgendetwas geschämt hat, sage euch: Ich schäme mich für euch!«
Bedrückendes Schweigen breitete sich in dem Theater aus, doch noch ehe die ersten betroffen die Blicke senkten, erhob ein weiterer Nephilim mit langem, roten Bart die Stimme. »Und wer schämt sich für die tausend und abertausend Opfer, die dieser Krieg bis heute gefordert hat? Es wird Zeit, dass er beendet wird, und wenn das bedeutet, dass der Teufel herrscht, dann soll es mir recht sein! Was könnte er tun, das schlimmer wäre als das, was wir jetzt erleben? Seht euch die Engel an, ihre Herrschaft aus Gewalt und Ignoranz, die der Machtausübung der Menschen über die Welt in nichts nachsteht! Es wird Zeit, dass neue Kräfte das Zepter ergreifen, Mächte, die es besser machen können und die es leid sind, sich in den Schatten zu verstecken!«
Beifall brandete auf, und Krayfon hob die Faust. »Die Zeit des Umbruchs ist gekommen, nutzen wir sie jetzt! Alles, was wir tun müssen, ist ein Opfer zu bringen, das keines ist! Bringen wir den Teufelssohn zu seinem Vater! Er hat die Wahl, ihm zu folgen – wie wir!«
»Wie könnt ihr so reden!«, rief Morpheus zornig. »Viele von euch kommen aus der Welt der Menschen, ebenso wie Nando, habt ihr Ayus nicht zugehört, als er gerade von euch sprach? Habt ihr bedacht, was aus euren Familien dort oben werden wird, aus euren einstigen Freunden? Der Teufel hat nie einen Hehl daraus gemacht, was er mit den Menschen tun wird, wenn er die Herrschaft über die Welt erlangt und sie sich weigern, ihm zu folgen! Wollt ihr an seiner Seite stehen in dem Krieg, den er führen wird, und eure Freiheit auf Blut und Verderben gründen? Krakeelt ihr nicht in jeder Nacht im Flammenviertel herum, warum ihr die Engel verabscheut, wie gering ihr sie achtet? Und jetzt wollt ihr schlimmer sein als sie alle zusammen?«
»Mich kümmern die Menschen nicht!«, erwiderte der Nephilim mit dem roten Bart. »Sie würden sich auch nicht um uns scheren, wenn sie an unserer Stelle wären, das sage ich euch!
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