Nephilim
Betäubung in seinen Gliedern gespürt. Morpheus hatte ihn vollständig vom Gift des Dämons befreit, er hatte seine Wunden verarztet und nebenher noch einige Verbesserungen an seinem metallenen Arm vorgenommen, sodass dieser nun noch schneller auf magische Impulse reagieren konnte. Nando erinnerte sich an den Durst, den er nach der Operation gehabt hatte, und daran, dass Antonio zu ihm gekommen war, um ihm die Lippen zu befeuchten. Schweigend hatte er an seinem Bett gesessen, ihn mit rätselhaftem Ausdruck betrachtet und zugesehen, wie er eingeschlafen war. Nando waren die Augen zugefallen, doch er hatte noch Antonios Hand auf seinem Haar gefühlt, ehe er eingeschlafen war – eine Berührung wie ein geflüstertes Wort, sanft und beruhigend. Als er zum zweiten Mal erwacht war, hatte er die Auswirkungen des Kampfes gegen den Wolf gespürt, die sich inzwischen bis auf die Schmerzen in seiner Schulter zu einer tiefen Erschöpfung zusammengezogen hatten. Diese war von einer seltsamen Ruhe erfüllt wie ein See in den Tiefen des Waldes, unberührt und reglos, und Nando ließ sich in ihrem Wasser treiben, das Gesicht den Sternen zugewandt – den Sternen aus Feuer und Eis.
Hinter ihm saßen nicht nur die Senatoren der Stadt, sondern auch sämtliche Novizen der Akademie, die die Prüfung im Nebel der Ovo erfolgreich abgeschlossen hatten. Nando bemerkte schräg hinter sich Noemi, die Morpheus vollständig geheilt hatte, und als ihre Blicke sich begegneten, lächelte sie ihm zu. Sie hatten noch kein Wort gewechselt seit dem Kampf gegen den Wolf, und doch schien es ihm, als wären sie seitdem auf eine seltsame Weise verbunden, als hätten sie einen Pakt geschlossen, indem sie einander das Leben retteten. Er konnte es sich nicht erklären, aber er musste an Noemis Worte denken, als er in der Varja-Siedlung mit ihr gesprochen hatte, und daran, dass ihre Wurzeln im Volk der Ra’fhi lagen. Und wenn die Cor Wanoy, die uralten Engel aus den Annalen der Ersten Zeit, der Atem der Welt sind, so waren die Ra’fhi das Blut in ihren Venen. Nando dachte an ihren Blick, nachdem er sie vor Harkramar gerettet hatte, dachte auch an den Ausdruck in ihren Augen, ehe das Feuer ihres Messers in den Sümpfen der Schatten erloschen war, und er wusste, dass sie bereits dort etwas getan hatte, dessen Bedeutung er nur erahnen konnte. Vielleicht, so dachte er, würde er sie fragen können – eines Tages.
Er legte den Kopf in den Nacken und hörte die Stimmen der anderen Novizen, das leise, aufgeregte Murmeln, das ihn an die Abschlussfeiern seiner alten Schule denken ließ, wenn es Zeugnisse gab und die Schüler in die Ferien verabschiedet wurden. In Bantoryn würde es keine Ferien geben. Doch auch die Stadt jenseits des Lichts feierte und würdigte all jene, die sie zum Strahlen brachten. Bis auf eine Ausnahme hatten alle die Prüfung bestanden.
Riccardo war es nicht gelungen, Paolo im Nebel der Ovo aufzuspüren, und dieser war auch nicht von allein nach Bantoryn zurückgekehrt. Noemi und einige andere Novizen hatten Antonio von den Vorkommnissen berichtet, woraufhin der Engel umgehend mehrere Suchtrupps entsandt hatte, um Paolo ausfindig zu machen. Für einen Novizen war es gefährlich, sich allein in der Oberwelt herumzutreiben. Das Risiko war groß, dass Paolo von den Engeln aufgespürt wurde, und wenn sie ihn nicht sofort töteten, so konnten sie unter Umständen herausfinden, wo Bantoryn sich befand. Zwar hatte Paolo die Trainingseinheiten, in denen die Novizen lernten, sich gegen Folter zu verwahren, erfolgreich absolviert, doch sah er sich momentan allein und ausgestoßen aus der Gemeinschaft und war möglicherweise bereit, die Nephilim an die Engel zu verraten. Nando erinnerte sich an den Zorn, der Paolos Gesicht zu einer Fratze aus Hass verzerrt hatte. Andererseits zweifelte er daran, ob dieser tatsächlich sein Leben aufs Spiel setzen würde, um Rache zu üben. Er hasste Nando, das stand außer Frage, doch er war auch ein Feigling, dem es in erster Linie um seinen eigenen Vorteil ging. Einen Pakt zwischen Nephilim und Engeln würde es nicht geben, das musste Paolo klar sein, und er stand auch weiterhin unter dem Schutz der Stadt – so lange, bis ihm der Prozess gemacht wurde. Dann würde er sich vor dem Senat verantworten müssen. Im schlimmsten Fall drohte ihm eine Verurteilung wegen Eidbruchs und damit ein Ausschluss aus der Gemeinschaft. Möglicherweise würde er sich rehabilitieren dürfen, doch dieser Weg war lang und
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