Nephilim
und er brauchte einen Moment, um fortzufahren. Nando saß bei ihm, er spürte die Kälte um sich herum, doch er fror nicht. Sie strich durch die Mohnblüten und legte einen feinen roten Schleier auf Antonios Körper, als wollte sie ihn vor sich bewahren.
Du konntest deine Eltern nicht retten , fuhr Antonio fort, doch Nando sah, dass es ihm schwerfiel, die Augen offen zu halten. Du konntest sie nicht retten, weil du kein Gott bist. Aber dennoch bist du stark. Du hast alles getan, was in deiner Macht stand, und du hast dich von der größten Kraft leiten lassen, die es in dieser Welt gibt. Du wirst ein Held sein, wenn du deiner inneren Stärke vertraust, wenn du sie erkennst und dich von ihr leiten lässt. Doch wenn du den Glauben an dich verlierst, wird deine Schwäche siegen, und dann werden andere Mächte von dir Besitz ergreifen.
Nando sah das Lächeln, das auf Antonios Lippen zitterte, und seine Stimme klang heiser, als er antwortete: »Ich habe gespürt, welche Kräfte der Teufel entfalten kann. Ich weiß nicht, ob ich jemals bereit sein werde, ihm entgegenzutreten.«
Da stieß Antonio einen Laut aus, der wie ein Lachen klang. Luzifer hat getan, was er am besten kann: Er hat die Kräfte des Guten für eigene Interessen genutzt. Er hat deine Kraft gebraucht, mit ihr hat er die Engel zurückgeschlagen, und das bedeutet, dass du alles, was er erreicht hat, auch selbst hättest erreichen können, wenn du den Glauben an dich nicht verloren hättest. Du warst es, der die Engel in Bantoryn zurückschlug, Nando – deine Kraft, nicht die des Teufels. Doch dein Zweifel erlaubte es ihm, dich zu stürzen, denn du hast deiner Stärke nicht vertraut, jener Stärke, die jede Teufelsmacht der Welt bezwingen kann. Eines Tages wirst du ihr einen Namen geben. Dessen sei gewiss.
Nando holte Atem. Er dachte daran, wie er vor so kurzer Zeit mit Antonio in diesem Mohnfeld gesessen hatte, in demselben Feld, in dem der Engel nun bleich und versiegend dalag und seine Hand hielt. Etwas hatte in Antonios Blick gestanden, ein Schatten und eine Gewissheit, und auf einmal begriff Nando, dass der Engel bereits zu jenem Zeitpunkt gewusst hatte, was geschehen würde. Nicht die Umstände, nicht den Zeitpunkt, aber er hatte gewusst, dass Nando scheitern musste, um erkennen zu können, was in ihm lag. Antonio glaubte an ihn, mehr noch – er gab sein Leben für ihn.
Erschrocken sah Nando, wie Antonios Körper durchscheinend wurde, wie sich die Schatten in seinen Augen verstärkten und seine Wangen bleicher wurden. Er verwandelte sich in feinen Nebel, lautlos und scheinbar ohne Schmerzen, doch Nando ertrug den Anblick kaum. Er wusste, dass Antonio ihn nun verlassen würde, und plötzlich schossen so viele Worte auf seine Zunge, so viele Gedanken, die er seinem Mentor und Freund niemals gesagt hatte, doch als er den Mund öffnete, kam nur ein Satz über seine Lippen.
»Ich danke dir«, flüsterte er und legte seine rechte Hand auf sein Herz, wie die Ritter der Garde es taten, um einem Krieger Respekt zu zollen.
Ich bin ein Engel , flüsterte Antonio, und das Lächeln auf seinen Lippen blühte auf wie eine der Mohnblüten. Ich bin ein Geschöpf des Lichts, das sein Leben in den Schatten verbracht hat, und ich bereue es nicht. Es gibt wenige Augenblicke, die die Macht haben, in das Innere eines Engels vorzudringen, die ihm wertvoll geworden sind, und doch … Ich habe so viele dieser Momente in mir. Momente in Bantoryn, Momente mit meinen Novizen und den anderen Bewohnern der Stadt, Momente über den Dächern Roms. Und diesen Moment, Nando, diesen Moment, in dem ich sterbe. Ich rieche den Duft der Mohnblumen, ich sehe, wie der Sohn des Teufels um mich weint, und ich nehme dieses Bild mit mir, das ich selbst im Totenreich der Engel nicht vergessen werde. Ich nehme es mit mir, mein Sohn – mit nach Andra Amyon, an den Ort, an dem die Zeit stillsteht.
Die Schatten in Antonios Augen wurden tiefer, für einen Moment glitten sie an seinen Wangen hinab, dass es aussah, als weinte er. Doch gleich darauf ging ein Flackern durch seinen Blick, ein Licht, das Nando einen Schauer über den Rücken schickte. Es war dasselbe Licht, das er in Aldros Blick gesehen hatte, und es füllte den Engel an, bis seine Augen in strahlendem Gold lagen.
Dort , sagte Antonio leise. Dort ist Licht.
Dann wurde das Gold in seinen Augen stumpf, sein Körper zerbrach zu weißem Nebel, und Nando meinte, den Herzschlag der Welt in den Tiefen des Mohnfeldes versagen zu hören.
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