Nephilim
Nando die Kraft, die von Aldros ausging. Es war ein Licht, das über jeden Begriff von Helligkeit hinausging, ein Glimmen in tiefschwarzer Nacht und ein Atemholen in der Finsternis. Gleißend durchströmte es Aldros’ Körper und sandte Funken zu Nando herüber, die etwas in ihm Antwort gaben und die den einstigen Teufelssohn erhellten wie einen versinkenden Stern. Nando griff sich an die Brust, es schien ihm, als wäre er gleichzeitig verwundet und geheilt worden, ohne begreifen zu können, was geschehen war. Gleich darauf sank das Bild in das Gold von Antonios Augen und verschwand.
»Aldros hätte mich töten können, und er tat es nicht«, fuhr der Engel fort. »Ich hingegen ließ ihn allein mit seinem Zweifel, ich sah nicht, welche Kraft er in sich trug, und half ihm nicht, sie für sich selbst zu erkennen. Aber in dem Moment, da mein Novize mir das Leben rettete, indem er das seine aufgab, in dem Augenblick, da er in meinen Armen starb, sah ich seine wahre Kraft. Aus Unwissenheit warf ich Aldros vor die Füße des Teufels, und doch war er stark genug, diesem Fürsten der Schatten zu widerstehen – stark genug, um sich gegen sein eigenes Leben zu entscheiden. Diese Kraft, Nando, liegt auch in dir.«
Er sog scharf die Luft ein, seine Finger schlossen sich so fest um Nandos Hand, dass seine Gelenke knackten. Doch Nando fühlte keinen Schmerz. Er legte Antonio die freie Hand auf die Schulter, seine Hand aus Metall, und schickte einen Wärmeschauer in seinen Körper, so wie sein Mentor es früher häufig bei ihm getan hatte. Antonio sah ihn an, seine Lider bewegten sich nicht. Nur die Schatten in seinen Augen wurden dunkler und gruben sich tiefer in jeden Zug seines Gesichts, und seine Stimme vermengte sich mit dem Raunen des Windes.
»Diese Stärke lässt dich weinen um einen Engel wie mich«, flüsterte er kaum hörbar. »Sie trug dich durch dein gesamtes bisheriges Leben, sie brachte dich dazu, den Obdachlosen Nahrung zu geben, sie ließ dich um die Qualen deiner Eltern weinen, und sie ließ dich verzweifeln an deiner eigenen Hilflosigkeit. Sie trieb dich immer wieder dazu, dein Leben für andere einzusetzen, zu helfen, auch wenn es keiner sah. Sie fügte dir Schmerzen zu, immer wieder, und sie schleuderte dich in Finsternisse, die du bis heute nicht begreifen kannst. Doch sie war es auch, die dich auf Matradons Rücken hielt, sie, durch die du das Vertrauen Bantoryns errungen hast und in deren Wärme du die Kälte und den Schrecken ertragen hast, die der Tod über dich bringen wollte. Das ist es, was Helden tun: Sie geben ihr Bestes, Nando. Aber sie verzweifeln nicht.«
Nando senkte den Blick. »Wenn ich den Weg gehe, den du von mir erwartest … Hast du dich nie gefragt, was aus mir wird, wenn ich meine Kraft gänzlich beherrsche? Wenn ich dann die Magie des Lichts, die Magie der Schatten für mich erschließe, und dann weitergehe, immer weiter auf diesem Weg, an dessen Ende der Teufel auf mich wartet? Ich könnte genauso werden wie er. Und wie er könnte ich die Welt zerstören mit der Macht, die ich erlange.«
Er dachte an das Triumphgefühl, als er über die Dächer Bantoryns hinweggerast war, an die Glut der höheren Magie in seinen Adern, und er hätte geschaudert, wenn Antonio ihn nicht mit ruhigem Blick betrachtet hätte.
»Du fliegst nicht aus eigener Kraft, weil du Angst hast zu fallen«, raunte der Engel. »Doch die Stärke, die in dir liegt, wird dich leiten. Sie hält die Welt zusammen, sie verbindet dich mit ihr, sie lässt dich ihren Herzschlag hören, und sie hält dich schwebend zwischen Licht und Schatten. Diese Stärke ist es, die dich wie Aldros zweifeln lässt, sie ist es, die dich in die Tiefen deines Ichs führen kann – doch zugleich ist sie es auch, die dich trägt, die dich den Zweifel überwinden lässt und die dich gestärkt aus dir selbst hervorgehen lässt. Ich wusste lange nichts davon, ahnte nicht, dass Aldros’ Zweifel ein Teil dieser Stärke war. Doch ich sage dir: Überlasse diesem Zweifel niemals die Macht über deine Kräfte. Sieh in den Spiegel, den er dir vorhält, aber blicke hinter die Fratze, die deine Furcht dir darin zeigt. Ich weiß, dass du in ein Gesicht der Schönheit blicken wirst, ein Gesicht, das Verzweiflung kennt und Ohnmacht und Traurigkeit, ja – aber ein Gesicht, in dessen Blick ein ungebrochener Wille steht und eine Stärke, die der Zweifel nicht zerbrechen, sondern nur mächtiger machen kann.«
Antonio hustete, dass Blut aus seinem Mund quoll,
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