Nephilim
die er uns genommen hat. Wir brauchen sie nicht, oder irre ich mich? Brauchen nicht ihren Glanz, ihre Wärme, ihre Ruhe, sehnen uns nicht nach ihr mit aller Kraft unseres unsterblichen Lebens. Nein, nicht wahr? Das tun wir nicht.«
Der Wolf knurrte leise, und Bhrorok umfasste einen Zweig, der ihm den Blick versperrte, mit der Faust. Umgehend begannen die Blätter zu faulen, das Holz splitterte zwischen seinen Fingern und fiel als feiner Staub zu Boden. Vor ihm lag der See, schwarzes Wasser durchtränkt von roten Schleiern. Unwillkürlich musste Bhrorok an die dunkle Farbe fauligen Fleisches denken, über das sich ein Netz aus Adern mit vertrocknetem Blut zog, doch gerade als er sich in dieses Bild versenken wollte, um dem Zorn hinter seiner Stirn Einhalt zu gebieten, spürte er eine Erschütterung.
Sofort packte er seinen Begleiter und drückte ihn hinter einem Gestrüpp zu Boden. Er selbst duckte sich und sog witternd die Luft ein. Er roch nichts, doch er fühlte die magischen Impulse, die durch die Luft glitten und sich wie glühende Drähte in seine Haut bohrten.
Angelos.
Bhrorok ballte die Hände zu Fäusten und fixierte die Dunkelheit des Unterholzes, durch welche die Impulse am stärksten zu ihm drangen. In immer kürzeren Abständen gruben sie sich in seinen Leib, spreizten ihre Glut zu Widerhaken und rissen an seinem Fleisch, bis an mehreren haarfeinen Stichen schwarzes Blut über seine Haut rann. Dennoch wartete er regungslos, den Blick starr in die Finsternis gerichtet, und sah zuerst schwach, dann zunehmend stärker silbernes Licht durch die Bäume brechen. Doch es legte sich nicht um die Stämme und Blätter, wie Sonnen- oder Mondlicht es getan hätte. Es drang durch die Pflanzen des Parks, als wären sie nichts als geisterhafte Nebel, Schatten einer anderen Welt, die jenseitig und farblos erscheinen musste angesichts dessen, das nun an ihnen vorüberschritt. Für einen Moment wurde das Licht gleißend hell. Beinahe hätte Bhrorok die Augen zusammengekniffen. Doch er zwang sich, diese Helligkeit zu durchdringen, bis er ihren Schein gemildert hatte, zwang sich, keinen Lidschlag lang den Kopf zu neigen oder sich abzuwenden. Dieses Licht, das wusste er, war für keine sterbliche Seele auch nur zu erahnen. Dieses Licht galt auch nicht den Engeln, Geschöpfen aus Glanz und Glorie. Dieses Licht galt Kreaturen wie ihm, Geschöpfen der Nacht und der Finsternis, die es zerschmettern wollte und zerreißen mit seinen glühenden, lockenden Händen aus Samt, die ihm das Fleisch von den Knochen zogen. Niemals würde er auch nur Atem holen, jetzt, da der Thron sich näherte. Niemals würde er den Kopf neigen vor diesem Licht.
Bhrorok hatte viele Engel gesehen in jedem seiner langen Leben. Unzählige hatte er getötet und noch mehr gehasst und verfolgt. Doch selten hatte er etwas gefühlt wie nun, da der Thron aus dem Unterholz trat. Es war eine Mischung aus Abscheu und Faszination – ein Gefühl, das Bhrorok unbekannt geworden war. Der Körper des Engels schien aus flüssigem Silber zu bestehen, mit nichts bekleidet als einem einfachen Leinentuch. Seine Schwingen glitten hinter ihm durch die Bäume, feingliedrige Adern liefen darüber hin wie ein Geflecht aus kostbarem Kristall. Langes, weiß schimmerndes Haar ergoss sich über seine Schultern, und auf seinem schmalen, nur annähernd maskulinen Gesicht lag ein erhabenes Lächeln. Seine Augen waren golden, und nun, da er an den See trat und das Leinentuch abstreifte, spiegelten sich die Ströme des Wassers in ihnen wie Bäche aus Blut. Fuß um Fuß setzte der Engel in den See, bis er schließlich bis zur Hüfte darin verschwunden war. Das Wasser verfärbte sich von ihm ausgehend in silbrigem Licht, kristallen perlte es über seinen Körper, als er die Arme ausbreitete und es schweigend über seinem Kopf ausgoss.
Bhrorok hob die Hand und hauchte seinen froststarrenden Atem in seine Faust. Gleich darauf kroch etwas unter seiner Haut entlang auf seine Handfläche zu und brach mit leise schmatzendem Geräusch daraus hervor. Es war eine Schnecke mit messerscharfen Beißwerkzeugen, die sich lautlos von Bhroroks Hand in den See gleiten ließ.
Als hätte er diese Bewegung gefühlt, stand der Engel plötzlich regungslos. Auch Bhrorok rührte sich nicht, und als hätte dieser gemeinsame Stillstand dem Thron seine Anwesenheit offenbart, wandte er mit einem Ruck den Kopf und schaute zu ihm herüber. Das Wasser verharrte auf dem Körper des Engels, das Rauschen der Bäume
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