Nephilim
jenen, die sie aufnehmen. In ihnen vollzieht sich ihre wahre Bestimmung, und erst auf diese Weise erreicht sie die Vollkommenheit, die sie sein soll. Kein Engel kann diese Art von Unsterblichkeit erlangen. Nando erinnerte sich an die seltene Sehnsucht auf den Zügen des Engels, während dieser das Gemälde betrachtet hatte, als wäre er ein Mensch und würde des Nachts den Mond oder die Sterne betrachten, wohl wissend, dass er sie niemals erreichen konnte.
Atemlos bog Nando in einen weiteren Korridor ab. Die Zahlen an den Räumen flogen nur so an ihm vorüber, doch er hatte sein Ziel immer noch nicht erreicht. Er hätte in den vergangenen Tagen den richtigen Raum suchen müssen, um den Weg zu kennen, das wusste er jetzt. Aber er hatte all seine Kraft und Konzentration in den Unterricht bei Antonio gelegt. Der Engel war ein geduldiger Lehrer, doch in seinem Blick lag eine Erwartung und Sicherheit, die Nandos Ehrgeiz weckte. Immer wieder war er kurz davor gewesen, zu verzweifeln, wenn eine Formel zu kompliziert, ein magisches Artefakt zu schwer zu handhaben war, doch jedes Mal hatte ein Blick in Antonios Augen genügt, um ihn weitermachen zu lassen. Sobald du damit beginnst, etwas zu versuchen , sagte der Engel häufig zu ihm, kannst du es gleich sein lassen. Du musst etwas tun. Tu es! Und versuche es nicht. Nando durfte nicht versagen, wenn dieser Engel an ihn glaubte, das fühlte er, und so lernte und übte er ohne Unterlass. Nach seinem Besuch bei Antonio in der vergangenen Nacht hatte er auf seinem Zimmer noch lange über den Büchern gesessen, sich in magische Lektionen und Formeln vertieft und verschiedene Kampftechniken studiert. Irgendwann musste er eingeschlafen sein – und war vor wenigen Augenblicken auf einer zerknitterten Pergamentrolle erwacht. Hektisch war er in seine Kleidung geschlüpft und irrte nun durch die schier endlosen Korridore des Kampfkunsttraktes.
Seine Miene verfinsterte sich, als er daran dachte, dass die anderen Novizen jeden Tadel, den er für sein Zuspätkommen erhalten würde, mit Genugtuung hören würden. Antonio hatte ihm von Noemi und Silas erzählt, und er hatte erfahren, dass der junge Mann mit den braunen Locken, der ihn an Luca erinnert hatte, Riccardo hieß und wie er aus der Oberwelt nach Bantoryn gekommen war. Doch diese Gemeinsamkeit führte nicht dazu, dass Riccardo ihm weniger feindselig begegnete. Er trug Noemis Zorn in sich, und wie sie dachte er gar nicht daran, ihn aufzugeben.
Endlich erreichte Nando den gesuchten Raum. Hinter der Tür hörte er Drengurs Stimme. Sie drang durch das Holz wie ein Schwert durch Fleisch und Sehnen. Nando dachte an all die Unterrichtsstunden, zu denen er in seiner alten Schule zu spät gekommen war, dachte an den Geruch dort, der in solcher Vollendung eins mit dem Gebäude geworden war, dass er sich nur einen der mit quietschendem Linoleum belegten Gänge vorstellen musste und sofort wieder diesen Duft in der Nase hatte: den Gestank nach Bohnerwachs, unnützem Wissen und Angst, der von dem kühlen und abweisenden Windhauch einer jeden Schule getragen wurde und ihn auch jetzt anflog, da er vor der Tür zu seiner ersten Kampfstunde stand. Er ballte die Faust und streckte die Finger. Wenn er sich jetzt nicht in Bewegung setzte, würde er noch am Ende der Stunde dastehen und von den anderen Novizen über den Haufen gerannt werden. Ausatmend öffnete er die Tür und trat ein.
Sofort war es totenstill. Er befand sich in einem vertäfelten Raum mit gewölbter Decke, unter der sich sieben schwere Balken von Wand zu Wand zogen. Boxsäcke, Fechtbahnen und Kletterwände befanden sich an den Seiten, und in der Mitte stand eine Gruppe von etwa fünfzehn Novizen und starrte ihm entgegen. Eilig schlüpfte er in seine Jacke und schloss sie, während er auf die anderen zulief. Zu seinem Missmut entdeckte er den rothaarigen Freund Noemis in der Menge. Er hieß Paolo, so viel hatte Nando erfahren, und verzog das Gesicht zu einem feixenden Grinsen.
Offensichtlich hatte sich die Klasse gerade zusammengefunden und von Drengur erste Instruktionen erhalten. Hochaufgerichtet stand der Lehrer inmitten seiner Novizen, barfuß wie sie und mit einer schwarzen, weiten Hose bekleidet. Sein nackter, muskulöser Oberkörper war wie sein Schädel mit verschlungenen Tätowierungen bedeckt und nun, da er sich zu Nando umwandte, wirkte er wie ein sich geschmeidig bewegendes Raubtier. Althos, sein Panther, war nirgendwo zu sehen. Drengur drehte den Stock, den er in der
Weitere Kostenlose Bücher