Nero
saß eine Weile da, wie gelähmt. Dann streckte er seine krampfhaft zitternden Hände aus und sprach schluchzend: »Acte! Im Namen des Heilands, der für uns alle geblutet hat, thue mir das nicht an! Zerstöre nicht so den größten Gedanken seit Christi Dahinscheiden! Zertrümmere nicht die Zukunft des Nazarenertums, das herrliche, himmlische Werk der Erlösung!«
»Durch Sünde kann die Welt nicht erlöst werden.«
»Acte! Beim Grab deiner Mutter, die im seligen Glauben an Gottes Gnade gestorben ist . . .!«
»Beim Grab meiner Mutter!« rief die Freigelassene bewegt. »Diese Heilige brauchtest du noch zu nennen, um die Festigkeit meines Entschlusses zur Starrheit zu machen!«
»So willst du nicht . . .? Trotz meines Flehens, Acte, trotz meiner Thränen?«
»Nein, und tausendmal nein.«
Die Züge des Nicodemus verzerrten sich. Ein gräßlicher Fluch schien auf seinen Lippen zu schweben, ein wilder, unerhörter Schrei der Verdammnis . . . Die fleischlosen Finger hatten sich geierartig zusammengekrallt; die Brust keuchte; aus den geröteten Augen flammte der Blick eines dämonischen Hasses.
Gleich danach überwand er sich. Noch immer zitternd goß er Wein in die nächste Schale und stürzte den Trunk hinab, wie ein Verlechzender.
»Du willst nicht,« sagte er tonlos. »Aber der Cäsar will – und Nicodemus will, – und da möge sich's denn erweisen, ob stiebende Kieselsteine die Bergwand aufhalten, wenn sie ins Thal donnert. Du kennst mich. Geh jetzt schlafen, du arme Thörin! Mit dem neuen Tage kehrt dir vielleicht die alte Vernunft wieder.«
Er verließ das Triclinium. Seine Schritte verhallten im Säulengang. Man hörte das leise Aechzen der Thürzapfen. Dann alles still.
Halbverstört sah Acte sich allein in dem weindurchdufteten Speisegemach. Die Drohworte ihres Gebieters klangen ihr mit zermalmender Klarheit durch das Gemüt. Ja, sie kannte ihn. Gütig sonst und gerecht, war er zu jeder Gewaltthat fähig, wenn ihm das, was er für zweckmäßig oder notwendig hielt, störend durchkreuzt wurde.
Sie sann und sann. Schwerer immer und schwerer legte sich ihr die Ahnung eines künftigen Unheils über die bangende Brust.
Plötzlich war es, als rufe ihr aus der matt erhellten Tiefe des Speisegemachs eine Stimme die Worte zu: »Fort, fort, sonst bist du verloren!«
Eine sinnlose Angst überkam sie. ›Der Cäsar will‹ . . . ›Nicodemus will‹ . . . Aber
sie
wollte nicht, so wahr der Sohn Mariä geboten hatte: ›Wandle unsträflich!‹ Sie wollte nicht, – und so mußte sie flüchten . . . Nur so entging sie der feindlichen Uebermacht, dem Kampf mit der eigenen Schwäche, dem Ingrimm des Nicodemus.
Leise, wie eine Verbrecherin, schlich sie in ihr Cubiculum. Sie bebte an allen Gliedmaßen. Rasch, als hinge ihr Heil von jeder versäumten Minute ab, schnürte sie das Notwendigste ein. Die goldene Kette, das letzte Vermächtnis ihrer sterbenden Mutter, schlang sie wie einen Talisman um den Hals. Dann warf sie ein dichteres Obergewand über, löschte die Lampe und eilte dem Posticum zu.
Am folgenden Morgen riefen die Hausbewohner vergeblich ihr ängstliches »Acte!« durchs Peristyl. Man fand ihr Lager noch unberührt. Ein Pergamentstreifen, mit einer Schmucknadel wider die Thüre befestigt, trug die wenigen Worte: ›Lebt alle wohl!‹ Nicht die leiseste Spur aber ließ erraten, wohin sie entschwunden war.
Nicodemus, von Zweifeln und Gewissensbissen gequält, schwieg über die Ereignisse des verflossenen Tages. Die ahnungslose Familie suchte daher auch vergeblich nach einem Beweggrund für diese plötzliche Flucht. Alle beklagten nur den Verlust der lieben Genossin wie ein gemeinsames Unglück. Sie war so hold, so erquickend gewesen in ihrer harmlosen Fröhlichkeit; ihr schimmerndes Blondhaar hatte die Räume des Hauses wie mit himmlischem Glanze durchtränkt; ihre ganze rosenhafte Erscheinung, ihre Stimme, ihr lerchenfröhliches Lied, – alles das würde man jetzt vermissen, wie der Blinde die ewig erloschene Sonnenpracht . . .
Nicodemus sprach seiner Gemahlin, die fast in Thränen zerfloß, Mut ein, murmelte etwas wie ›Mädchenlaune‹, ›Ueberspanntheit‹, ›schon zur Vernunft kommen‹ zwischen die Zähne, und begab sich dann auf die Stadtpräfektur, um das Vorgefallene zur Meldung zu bringen.
Pharax, der Obersoldat, der vor acht Tagen den verurteilten Artemidorus eskortiert hatte, war zufällig in dem Geschäftsraum derjenigen Abteilung thätig, die Nicodemus für seine
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