Nesbø, Jo - Harry Hole - 02
Harry.
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»Kommen Sie vorbei«, sagte Brekke und hatte unbemerkt eine Visitenkarte zum Vorschein gezau bert, die er ihm zwischen Zeige- und Mittelfinger entgegenstreckte.
»Zu Hause oder auf der Arbeit?«
»Zu Hause schlafe ich«, sagte Brekke.
Es war unmöglich, den Anflug des Lächelns zu sehen, der seine Lippen um spielte, aber Ha rry spürte es dennoch. Als ob allein die Tatsache, m it einem Kommissar zu reden, etwas Spannendes war, etwas Außergewöhnliches.
»Wenn Sie mich entschuldigen würden?«
Brekke flüsterte Runa etwas ins Ohr, nickte Hilde Molnes zu und verschwand eilig zu seinem Porsche. Der Platz leerte sich langsam, Sanphet geleitete Hilde Molnes zum Botschaftswagen und Harry blieb allein mit Runa stehen.
»Es gibt einen Empfang in der Botschaft«, sagte er.
»Ich weiß. Mutter hat keine Lust darauf.«
»Ah ja. Sie haben sicher einige Verwandte zu Besuch.«
»Nein«, antwortete sie bloß.
Harry sah Sanphet die Tür hinter Hilde Molnes schließen und um das Auto herumgehen.
»Tja, Sie können in meinem Taxi m itfahren, wenn Sie Lust haben.«
Harry spürte seine Ohrläppchen rot werden, als ihm bewusst wurde, wie sich das anhörte. Er hatte gem eint, »wenn Sie Lust haben, auf den Empfang in der Botschaft zu gehen«.
Sie blickte zu ihm auf. Ihre Augen waren schwarz und er wusste nicht, was er sah.
»Ich habe keine Lust.« Sie bega nn in Richtung Botschaftswagen zu gehen.
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KAPITEL 16
Die Stimmung war gedrückt. Es herrschte betretenes Schweigen.
Tonje Wiig persönlich hatte Harry gebeten zu komm en. Sie
standen in einer Ecke und drehte n ihre Gläser in der Hand.
Tonje Wiig arbeitete an ihrem zweiten Martini, während Harry um ein Glas W asser gebeten, st attdessen aber einen süßen, klebrigen Orangensaft bekommen hatte.
»Dann hast du Familie dort zu Hause?«
»So in der Art«, sagte Harry, ve runsichert darüber, wohin der plötzliche Themenwechsel und das Duzen führen sollten.
»Ich auch«, sagte sie. »Eltern und Geschwister. Ein paar Onkel und Tanten, keine Großeltern. Das ist alles, und du?«
»Ziemlich vergleichbar.«
Fräulein Ao wand sich m it einem Tablett voller Drinks an ihnen vorbei. Sie trug ein einfach es, traditionelles Thaikleid mit einem langen Schlitz an der Seite. Er sah ihr nach. Man konnte sich nur zu gut vorstellen, dass der Botschafter dieser Verlo-ckung erlegen war.
Am anderen Ende des Raum es stand ein Mann breitbeinig allein vor einer großen Weltkarte und wippte mit den Füßen. Er hatte einen geraden Rücken, brei te Schultern und silbergraues Haar, das ebenso kurz geschnitte n war wie Harrys. Die Augen lagen tief in seinem Gesicht, die Kiefermuskulatur arbeitete unter der Haut und seine Hände waren auf de m Rücken ineinander gelegt. Schon von weitem roch dieser Mann nach Militär.
»Wer ist das?«
»Ivar Løken. Der Botschafter nannte ihn bloß LM.«
»Løken? Ist ja in teressant. Er stand nicht auf der Liste der Angestellten, die ich in Oslo bekommen habe. Was tut er hier?«
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»Gute Frage.« Sie kicherte etwas und nahm einen Schluck.
»Tut mir leid, Harry, ich darf doch Harry sagen? Ich komme dir sicher etwas seltsam vor, aber ich habe in den letzten Tagen viel gearbeitet und wenig geschlafen. Er kam letztes Jahr hierher, kurz nach Molnes. Um es etwas ha rt auszudrücken, er gehört zu dem Teil des Auswärtig en Dienstes, der nirgendwo m ehr hinkommt.«
»Was soll das heißen?«
»Dass seine Karriere in einer Sa ckgasse ist. E r hatte vorher irgendeine Anstellung bei der Verteidigung, aber irgendwann klangen bei seinem Namen einfach ein p aar zu vie le ›Aber‹
mit.«
»Aber?«
»Hast du noch nicht gehört, wie sich die Leute im Auswärtigen Amt gegenseitig beschreiben? ›Er ist ein guter Diplomat, aber er trinkt, aber er hat zu viele Frauengeschichten‹ und so weiter. Dabei ist es viel wichtiger, was nach dem ›Aber‹ kommt, als was vorher gesagt wurde. Das ist der wirklich entscheidende Faktor, wie weit m an es im Department bringen kann. Deshalb finden sich so viele fromm e Mittelmäßigkeiten auf der Füh-rungsetage.«
»Und was sind seine ›Aber‹ und warum ist er hier?«
»Das weiß ich ehrlich gesagt nicht. Ich weiß, dass er Sitzungen hat und hin und wieder einen Beri cht schreibt, der nach Oslo geht, aber wir sehen ihn nicht so oft. Ich glaube, er ist am liebsten allein. Manchmal nimmt er sein Zelt und die Malariapillen, packt seinen Rucksack m it Fotoausrüstung voll und m acht Touren durch
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