Nesbø, Jo - Harry Hole - 02
Vietnam, Laos oder Kambodscha. Mutterseelenal-lein. Du kennst diese Typen.«
»Schon möglich. Was sind das für Berichte, die er da schreibt?«
»Keine Ahnung. Dafür war der Botschafter zuständig.«
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»Keine Ahnung? Ihr seid doch gar nicht so viele hier in der Botschaft. Hat das was mit dem Geheimdienst zu tun?«
»Wofür sollte das denn gut sein?«
»Nun, Bangkok ist doch ein Knotenpunkt von ganz Asien.«
Sie sah ihn an und lächelte ve rschmitzt. »Ach, wenn wir doch mit so spannenden Sachen beschäf tigt wären. Ich glaube eher, dass ihn das Auswärtige Am t hier arbeiten lässt als Dank für seine langjährigen Dienste fü r König und Vaterland. Außerde m unterliege ich sicher der Schweigepflicht.«
Sie kicherte wieder un d legte ihre Hand auf Harrys Arm.
»Sollen wir nicht über etwas anderes reden?«
Harry wechselte das Thema und ging dann, um noch etwas zu trinken zu holen. Der menschliche Körper besteht zu 60 Prozent aus Wasser und er hatte das Gef ühl, dass bei ihm das meiste davon im Laufe des Tages in den blaugrauen Himmel verdampft war.
Fräulein Ao stand ganz hinten im Raum bei Sanphet, der ih m gemessen zunickte.
»Wasser?«, fragte Harry.
Ao reichte ihm ein Glas.
»Für was steht LM?«
Sanphet zog die Augenbrauen hoch.
»Denken Sie an Herrn Løken?«
»Das tue ich.«
»Warum fragen Sie ihn nicht selbst?«
»Es könnte doch etwas sein, was Sie nur hinter seinem Rücken gesagt haben?«
Sanphet musste lächeln. »L steht für Living, M für Morphine.
Das ist ein alter Spitzname, den er während seiner Arbeit für die UN am Ende des Vietnamkriegs bekommen hat.«
»Vietnam?«
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Sanphet machte eine kaum merkliche Kopfbewegung und Ao verschwand.
»Løken war 1975 bei einer vietna mesischen Einheit in einer Landungszone, die gerade darauf wartete, von einem Helikopter aufgenommen zu werden, als si e von einer Vietcong-Patrouille angegriffen wurden. Es gab ein Blutbad und Løken war einer der Verletzten. Er hatte einen Durchschuss im Nackenmuskel.
Die Amerikaner hatten ihre Truppen längst aus Vietnam abgezogen, aber es waren noch Sa nitätssoldaten dort, d ie von Soldat zu S oldat durchs Elefan tengras rannten und erste H ilfe leisteten. Mit Kreide schrieben sie auf die Helme der Verwundeten, das sollte wohl eine Art Kr ankenblatt sein. Schrieben Sie ein D, bedeutete das, dass der Betreffende tot war, dam it die
Leute mit den Bahren nicht ihre Zeit verschwendeten und alle noch einmal untersuchten. L bede utete, dass der Verletzte noch am Leben war und schrieben sie ein M, hieß das, dass sie ihm Morphium gegeben hatten. Das taten sie, um zu vermeiden, dass ein und derselbe Verletzte mehrere Spritzen bekam und womöglich an einer Überdosis starb.«
Sanphet nickte in Richtung Løken.
»Als sie ihn fanden, hatte er bereits die Besinnung verloren, so dass sie ihm kein Morphium gaben, sondern bloß ein L auf seinen Helm kritzelten und ihn gem einsam mit den anderen in den Helikopter hievten. Als er von seinen eigenen Schm erzens-schreien aufwachte, begriff er erst nicht, wo er war. Doch als er den Toten, der über ihm lag, zur Seite gewälzt hatte und den Mann mit der weißen Armbinde sah, der im Begriff war, einem der anderen eine Spritze zu geben, verstand er alles und verlangte nach Morphium . Einer der anderen Sanitätssoldaten klopfte auf seinen Helm und sagte: › Sorry Buddy, du bist bereits bis zum Rand voll. ‹Løken konnte das nicht glauben und riss sich den Helm vom Kopf. Tatsächlich stan d dort L und M. Nur das s es nicht sein Helm war. Er blickte zurück zu dem Soldaten, der gerade in diesem Moment die Nadel injiziert bekam. Er sah den 126
Helm mit dem L auf dem Kopf des Verwundeten, erkannte das zerknautschte Zigarettenpäckchen unter dem Riemen und das UN-Zeichen und begriff sofort, was geschehen war. Der Ärmste hatte die Helm e ausgetauscht, um sich noch einen Schuss Morphium zu sichern. E r schrie auf, aber sein e Schreie gingen in dem Dröhnen der Motoren unter, als sie abhoben. Løken lag eine halbe Stunde schreiend da, bis sie den Golfplatz erreichten.«
»Den Golfplatz?«
»Das Lager. Wir nannten das so.«
»Dann waren Sie auch da?«
Sanphet nickte.
»Deshalb kennen Sie diese Geschichte so gut?«
»Ich war F reiwilliger beim Sanitätsdienst und nahm sie in Empfang.«
»Wie ging es weiter?«
»Løken steht dort vorne. Der andere ist nie wieder auf gewacht.«
»Überdosis?«
»An seinem Bauchschuss wäre er sicher nicht
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