Nesbø, Jo - Harry Hole - 02
und die Lichter der Autos, Motorräder und Tuk-Tuks waren wie ein Fluss aus Lava, der weit dort hinten in einem gelben Streifen erstarrte.
»Es sieht aus wie eine sich windende Schlange m it einem
hellen Muster auf dem Rücken, sehen Sie?«
Sie beugte sich über die Brüst ung. »Wissen Sie, was kom isch ist? Ich weiß, dass es hier in de r Stadt Menschen gibt, die ohne Skrupel für das bisschen töten würden, was ich heute Abend in der Tasche habe. Und trotzdem habe ich hier unten nie wirklich 171
Angst gehabt. In Norwegen sind wir an den W
ochenenden
immer hinauf in unsere Hütte gefahren. Ich kenne dieses Sommerhäuschen und säm tliche Wege auswendig. Und in den Ferien ging es immer nach Ørsta, wo jeder jeden kennt und ein Ladendiebstahl am nächsten Tag eine Dop pelseite in der Zeitung kriegt. Und trotzdem fühle ich mich hier am sichersten.
Hier, wo es überall Menschen gi bt und ich keinen davon kenne, ist das nicht seltsam?«
Harry wusste nicht, was er sagen sollte.
»Wenn ich wählen könnte, würde ich für den Rest m eines
Lebens hier wohnen bl eiben. Und dann würde ich m indestens einmal pro Woche an diesen Ort kommen und einfach nur hier stehen und die Aussicht genießen.«
»Die Aussicht auf den Verkehr?«
»Verkehr. Ich liebe Verkehr.« Sie drehte sich plötzlich zu ihm um. Ihre Augen waren traurig. »Sie etwa nicht?«
Harry schüttelte den K opf. Sie drehte den Kopf wieder zur Straße.
»Schade. Schätzen Sie m al, wie viele Autos jetzt gerade auf den Straßen von Bangkok unterwegs sind? Drei Millionen. Und jeden Tag komm en tausend Auto s dazu. Ein Autofahrer in Bangkok verbringt im Durchschnitt zwischen zwei und drei Stunden täglich im Auto. Haben Sie schon mal was von Comfort 100 gehört? Die bekomm t man an den Tankstellen, das sind solche Beutel, in die m an pinkeln kann, wenn m an im Stau steckt. Glauben Sie, dass die Eskimos ein W ort für Verkehr haben? Oder die Maori?«
Harry zuckte mit den Schultern.
»Denken Sie doch m al, was die alles verpassen«, sagte sie.
»Wenn man an Orten wohnt, wo m an nicht in Menschenmassen baden kann wie hier. Strecken Sie die Hand hoch …«
Sie nahm seine Hand und reckte sie in die Höhe.
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»Spüren Sie das? Wie das vibriert? Das ist die Energie von all den Menschen um uns herum . Sie ist in der L uft. Wenn Sie glauben, Sie sterben, und meinen, dass Sie niemand retten kann, können Sie einfach nach draußen gehen, die A rme in die Luft strecken und ein bisschen von di eser Energie aufsaugen. Sie können das ewige Leben erlangen. Das ist wahr!«
Ihre Augen strahlten, ihr ganzes Gesicht strahlte und sie legte Harrys Hand an ihre Wange.
»Ich kann spüren, dass Sie ein langes Leben haben werden.
Sehr lang. Noch länger als meins.«
»Sagen Sie so etwas nicht«, sagte Harry. Ihre Haut brannte auf seiner Handfläche. »Das bringt Unglück.«
»Lieber Unglück als gar kein Glück. Das hat Papa immer gesagt.«
Er nahm die Hand herunter.
»Wollen Sie denn kein ewiges Leben?«, flüsterte sie.
Er schloss die Augen und wusste, dass sein Hirn in diesem Moment ein Bild von sich und ihr knipste, auf einer Fußgängerbrücke voller eiliger Mensch en und einem lichtschimmernden Lindwurm unter ihnen. W ie wenn man ein Bild von Orten macht, die m an besucht, wohl wissend, dass m an nicht lange bleiben wird. Er hatte Erfahrung darin, eine schwerelose Nacht im Frognerbad, eine andere N acht in Sydney, als eine rote Haarmähne im Wind flatterte, und ein kalter Februarnachmittag am Flughafen Fornebu, als Søs im Blitzlichtgewitter der auf ihn wartenden Pressefotografen stand. Er wusste, dass er diese Bil -
der immer wieder würde wachrufen können, was auch geschah, sie würden nicht verbleichen, sondern mit den Jahren imm er mehr Tiefe und Geschmack gewinnen.
Im gleichen Moment spürte er einen Tropfen auf dem Gesicht.
Und dann noch einen. Er blickte verwundert nach oben.
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»Irgendjemand hat mir gesagt, dass es vor Mai nicht regnet«, sagte er.
»Mango-Schauer«, sagte Runa und wandte das Gesicht zum Himmel. »Das komm t manchmal vor. Das bedeutet, dass die Mangos reif sind. Jetzt wird es gleich wie aus Eim ern schütten.
Kommen Sie schnell …«
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KAPITEL 23
Harry war kurz vorm Einschlafen. Die Geräus che waren nicht mehr so aufdringlich und außerdem hatte er zu bemerken begonnen, dass es eine Art Rhythm us im Verkehr gab, eine Art Vorhersagbarkeit. In der ersten Nacht war er noch von eine m
plötzlichen Hupen
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