Nesbø, Jo - Harry Hole - 02
die imm er mit Löwen in Sichtweite trinken m uss. Sie dr ehte ihnen den Rücken zu und ging.
»Ein hübsches Mädchen«, sagte Tonje und musterte Harry.
»Reizend«, sagte er. »Jung.«
Tonje schien mit der Antwort zu frieden und führte ihn in ihr Büro.
»Ich habe gestern Abend versuc ht, dich telef onisch zu erreichen«, sagte sie, »aber du warst wohl nicht zu Hause.«
Harry sah, dass sie auf seine Frag e wartete, warum sie ihn angerufen hatte, aber er ließ es bleiben. Ao kam mit dem Tee herein und er wartete, bis sie wieder gegangen war.
»Ich brauche ein paar Informationen«, sagte er.
»Ja?«
»Da du während der Abwesenheiten des Botschafters chargée d’affaires warst, gehe ich davon aus, dass du eine Übersicht hast, wann er weg war.«
»Natürlich.«
Er las ihr vier Daten vor, die sie m it ihrem eigenen Kalender verglich. Der Botschafter war an all d iesen Terminen verreist gewesen. Dreimal nach Chang Ma i und einm al nach Vietnam.
Harry notierte langsam, während er Anlauf zum nächsten Satz nahm.
»Kannte der Botschafter neben seiner Frau noch andere Nor-wegerinnen in Bangkok?«
»Nein …«, sagte Tonje. »Nicht, dass ich wüsste. Ja, abgesehen von mir natürlich.«
Harry wartete, bis sie ihre T eetasse abgestellt hatte, ehe er fragte: »Was sagst du, wenn ich dir sage, dass ich glaube, du und der Botschafter hattet ein Verhältnis miteinander?«
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Tonje Wiigs Kinn sackte nach unten. Sie war ein Ausstel-lungsstück für die norwegische Zahnmedizin.
»Du liebe Güte!«, sagte sie ohne jede Ironie. Harry räusperte sich.
»Ich glaube, dass der Botsch after und du diese Tage, von denen wir gerade gesprochen haben, im Maradiz Hotel verbracht habt. Sollte das der Fall sein, muss ich dich bitten, euer Verhältnis zuzugeben und m ir zu sagen, wo du an dem Tag warst, an dem er zu Tode gekommen ist.«
Es war überraschend zu sehen, dass eine derart blasse Person wie Tonje Wiig noch weißer werden konnte.
»Sollte ich einen Anwalt hinzuziehen?«, fragte sie schließlich.
»Nicht, wenn du nichts zu verbergen hast.«
Er sah, dass sich in ih rem Augenwinkel eine Träne gebildet hatte.
»Ich habe nichts zu verbergen«, sagte sie.
»Dann kannst du mit mir reden.«
Vorsichtig drückte sie sich eine Serviette ans Auge, um ihre Mascara nicht zu verwischen.
»Manchmal hatte ich w irklich Lust, ihn um zubringen, wissen Sie.«
Harry nahm zur Kenntnis, dass si e ihn jetzt wieder siezte, und wartete geduldig.
»So sehr, dass ich m ich beinahe gefreut habe, als ich von seinem Tod erfahren habe.«
Er hörte, dass die W orte jetzt aus ihr herauswollten. Jetzt kam es darauf an, nichts D ummes zu sagen oder zu tun, das ihren Redestrom stoppen würde. Ei n Geständnis kommt selten von allein.
»Weil er seine Frau nicht verlassen wollte?«
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»Nein!« Sie schüttelte den Kopf . »Sie m issverstehen mich.
Weil er mir alles kaputtgemacht hat! Alles, was …«
Das erste Schluchzen klang so zart, dass Harry erkannte, dass er auf etwas gestoßen war. Sie riss sich zusammen, trocknete sich beide Augen und räusperte sich:
»Es war eine politische Ernennung, er war überhaupt nicht qualifiziert für diese Arbeit. Ich hatte bereits Signale erhalten, dass ich eine m ögliche Kandidatin für die Botschafterstellung war, als ich die Nachricht von seiner Ernennung bekam . Sie schickten ihn in aller Eile hier runter, als könnten sie ihn nicht schnell genug aus Norwegen wegbekommen. Ich m usste die Schlüssel des Botschafterbüros an jemanden abtreten, der nicht einmal den Unterschied zwis chen einem Botschaftsrat und einem Attaché kannte. Und ein Ve rhältnis hatten wir n iemals, das wäre für m ich ein vollkommen absurder Gedanke gewesen, verstehen Sie das nicht?«
»Was geschah dann?«
»Als ich gerufen wurde, um ihn zu identifizieren, habe ich das mit der Ernennung plötzlich vergessen, ich dachte nicht einm al daran, dass sich m ir jetzt eine neue Chance bot. Ich m usste nur immer daran denken, was für ein netter und freundlicher Mann er war. Das war er wirklich!«
Sie sagte das so, als habe Harry protestiert.
»Obwohl er als Botschafter nicht viel getaugt hat, meine ich.
Und wissen Sie, seither habe ic h mir ziemlich viele Gedanken gemacht. Dass ich hier i m Leben vielleicht nicht imm er die richtigen Prioritäten gesetzt habe. Dass es Dinge gibt, die wichtiger sind als Karriere und Arbeit. Vielleicht werde ich mich nicht einm al um den Bo tschafterposten bewerben. W ir werden sehen. Es
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