Nesbø, Jo - Harry Hole - 02
aufmerksam zu machen.
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»Vergessen Sie’s«, sagte sie. »Ich werde auf River Garden bestehen und er wird glauben, dass Sie nur versuchen, m ich
abzuschleppen, und mir beistehen. Wollen Sie eine Szene?«
Harry tippte dem Fahrer auf die Schulter und Runa begann zu schreien, so dass der Fahrer auf die Bremse stieg und Harry sich den Kopf anschlug. Der Fahrer drehte sich um und Runa machte sich bereit, noch einm al zu schreien. Harry hob abwehrend die Hände.
»O.k., o.k. Wohin dann? Patpong liegt wohl auf dem Weg?«
»Patpong?« Sie verdrehte die Augen. »Sie sind alt. Dahin
gehen doch nur alte Säcke und To uristen. Lassen Sie uns zum Siam Square fahren.«
Sie wechselte ein p aar Worte m it dem Fahrer, die sich für Harry wie fehlerfreies Thailändisch anhörten.
»Haben Sie eine Freun din?«, fragte sie, als s ie nach erneuter Androhung einer Szene ein Bier vor sich auf dem Tisch hatte.
Sie saßen in einem großen Straßencafé am oberen Ende einer monumentalen Treppe, die voller junger Menschen war –
Studenten, dachte Harry –, di
e ihre Auf merksamkeit dem
zähfließenden Verkehr und den a nderen auf der Treppe widm eten. Sie hatte einen misstrauischen Blick auf Harrys Orangensaft geworfen, aber vermutlich war sie bei ihrem familiären Hintergrund Enthaltsamkeit gewohnt. Oder auch nicht. Harry hatte den Verdacht, dass nicht jede der unge schriebenen Parteiregeln im Hause Molnes eingehalten wurde.
»Nein«, antwortete Harry und fügte dann hinzu: »Warum zum Teufel wollen das alle wissen?«
»›Zum Teufel‹? So sch limm ist es also ?« Sie machte es sich auf dem Stuhl bequem. »Das fr agen doch wohl nur die Mädchen?«
Er brummte amüsiert. »Versuchen Sie, m ich verlegen zu machen? Erzählen Sie mir lieber von Ihren Lovern.«
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»Von welchem?« Sie hielt die linke Hand im Schoß verborgen und hob m it der rechten das Bier glas. Mit einem neckischen Lächeln legte sie den K opf in den Nacken, sah ihn aber w eiter an.
»Ich bin keine Jungfrau mehr, wenn Sie das meinen.«
Harry hätte vor Überraschung fa st den Orangensaft über den Tisch gespuckt.
»Warum sollte ich?«, fragte sie und führte das Bierglas an die Lippen.
Nein, warum solltest du das, dachte Harry und sah die Haut an ihrem Kehlkopf zucken, als sie schluckte. Ihm fiel ein, was Jens Brekke über Adamsäpfel gesagt hatte, dass man die in der Regel nicht operativ entfernen konnte.
»Sind Sie schockiert? « Sie stel lte das Glas ab und m achte plötzlich ein ganz ernstes Gesicht.
»Warum sollte ich?« Es klang wie ein Echo und er beeilte sich hinzuzufügen: »Ich habe wohl auch in Ihrem Alter angefangen.«
»Ja, aber nicht mit dreizehn«, sagte sie.
Harry holte tief Luft, dachte nach und ließ die Luft langsam wieder durch die Zähne entweichen . Er hätte d as Thema jetzt beenden können.
»Ja dann. Und wie alt war er?«
»Das ist ein Geheimnis.« Sie hatte jetzt wieder diesen heraus-fordernden Gesichtsausdruck. »Erzählen Sie mir lieb er, warum Sie keine Geliebte haben.«
Beinahe hätte er es gesagt, aus einer Laune heraus, m öglicherweise, um sich für den Schock zu rächen, den sie i hm
versetzt hatte. Ihr gesagt, dass die beiden Frauen, die er – und das konnte er beschwören – aus vollem Herzen geliebt hatte, beide tot w aren. Die eine von eigener Hand, die andere durch die Hand eines Mörders.
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»Das ist eine lange Geschichte«, sagte er. »Ich habe sie verloren.«
»Sie? Sind es mehrere? Vermutlich haben sie deshalb Schluss gemacht, Sie haben es wohl zu wild getrieben, nicht wahr?«
Harry hörte den kindlichen Eifer in ihrer Stimme und in ihrem Lachen. Er brachte es nicht über sich, sie zu fragen, was für eine Beziehung sie zu Jens Brekke hatte.
»Nein«, sagte er. »Ich habe einfach nicht gut genug auf ge-passt.«
»Jetzt sehen Sie ganz ernst aus.«
»Tut mir leid.«
Sie blieben einen Moment wortlos sitzen. Sie fingerte an dem Etikett ihrer Bierflasche herum . Sah zu Harry auf. Schien sich zu entscheiden. Das Etikett löste sich.
»Kommen Sie«, sagte sie und na hm seine Hand. »Ich will Ihnen was zeigen.«
Sie gingen die Treppe zwischen den Studenten hindurch nach unten und kam en auf eine schm ale Fußgängerbrücke, die über die breite Avenue führte. In der Mitte der Br ücke blieb sie stehen.
»Sehen Sie mal«, sagte sie. »Ist das nicht schön?«
Er sah den Verkehr, der auf sie zurollte und unter ihnen verschwand. Die Straße erstreckte sich so weit, wie er sehen konnte,
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