Nesbø, Jo - Harry Hole - 02
gibt so viel zu bedenken. Ja, nein, ich kann das noch nicht sicher sagen.«
Sie schniefte ein paar Mal und sc hien sich wieder gefangen zu haben. »Es ist sehr ungewöhnlich, dass ein Botschaftsrat in der 180
gleichen Botschaft zum Botschaf ter ernannt wir d, wissen Sie.
Soweit ich weiß, ist das bis jetzt noch nicht vorgekommen.«
Sie klappte einen Handspiegel auf und überprüfte, ob ihr Make-up nicht verschm iert war, dann sagte sie wie zu sich selbst: »Aber irgendwann muss ja mal das erste Mal sein.«
Als Harry im Taxi saß und zurück zum Präsidium fuhr, entschloss er sich, Tonje W iig von der Liste der Verdächtigen zu streichen. Teils, weil sie ihn überzeugt hatte, teils, weil sie beweisen konnte, dass sie sich an den Tagen, die der Botschafter im Maradiz Hotel zugeb racht hatte, an anderen Orten aufgehalten hatte. T onje hatte auch best ätigt, dass nur wenige Norwe-gerinnen mit ständigem W ohnsitz in Bangkok in Betracht kamen. Deshalb traf es ihn wie ein Fausthieb in den Magen, als er plötzlich auf den unvor stellbaren Gedanken kam. W eil er eben gar nicht so unvorstellbar war.
Das Mädchen, das durch die Tür des Hard Rock Café ka m,
war ein anderes als das, das er im Garten und auf der Beerdigung gesehen hatte, m it der abwesenden, verschlossenen Kör-persprache und de m magersüchtigen, trotzigen Gesichtsausdruck. Runa setzte ein strahlende s Lächeln auf, als sie ihn m it einer leeren Colaflasche und eine r Zeitung vor sich sitzen sah.
Sie trug ein kurzärm liges, geblümtes Kleid. Wie eine perfekte Illusionistin hielt sie die Pr othese so, dass m an sie kaum bemerkte.
»Sie haben gewartet«, konstatierte sie hingerissen.
»Es ist schwer, den Verkehr zu berechnen«, sagte er. »Ich wollte nicht zu spät kommen.«
Sie setzte sich und bestellte einen Eistee.
»Gestern, Ihre Mutter …«
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»Schlief schon«, sagte sie kurz. So kurz, dass Harry schwante, es könnte sich dabei um eine Warnung handeln. Doch er hatte nicht mehr die Zeit, all die Umwege mitzugehen.
»Mit anderen Worten, betrunken?«
Sie sah zu ihm auf. Ihr fröhliches Lächeln war verdunstet.
»Wollen Sie über meine Mutter reden?«
»Unter anderem. Wie war die Beziehung Ihrer Eltern?«
»Warum fragen Sie das nicht meine Mutter?«
»Weil ich glaube, dass Sie di e schlechtere Lügnerin sind«, antwortete er aufrichtig.
»Ach ja? Wenn das so ist, da nn war ihre Beziehung fantastisch.« Der trotzige Ausdruck war in ihr Gesicht zurückgekehrt.
»So schlecht?«
Sie rutschte voller Unbehagen auf dem Stuhl herum.
»Tut mir leid, Runa, aber das ist mein Job.«
Sie zuckte mit den Schultern. »Meine Mutter und ich kommen nicht sonderlich gut miteinander aus. Während Papa und ich die dicksten Freunde waren. Ich glaube, sie war eifersüchtig.«
»Auf wen von Ihnen?«
»Auf uns beide. Auf ihn. Ich weiß es nicht.«
»Warum auf ihn?«
»Er brauchte sie nicht. Sie war Luft für ihn …«
»Kam es vor, dass Ihr Vater Sie mit in ein Hotel genommen hat, Runa? Ins Maradiz, zum Beispiel?«
Er bemerkte ihren verdutzten Gesichtsausdruck. »Wie meinen Sie das? Warum sollte er das tun?«
Er starrte auf die Zeitung, die auf dem Tisch lag, zwang sich aber, seinen Blick wieder zu heben.
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»Bah!«, platzte sie wütend heraus und warf den Löffel in ihr Teeglas, so dass es spritzte. »Sie reden vielleicht ein kom isches Zeug. Auf was wollen Sie hinaus?«
»O.k., Runa, ich verstehe, dass das schwierig ist, aber ich glaube, Ihr Vater hat Sachen gemacht, die er bereuen sollte.«
»Papa? Papa bereute ständig ir gendetwas. Er bereute etw as, übernahm die Schuld und hörte sich die Klagen an und … Aber die Hexe wollte ihn nicht in Frieden lassen. Sie hat ihn die ganze Zeit über erniedrigt, du bist dies nicht und du bist das nicht, du hast mich in diese Sache hineingezogen und so weiter. Sie dachte, ich würde das nicht m itbekommen, aber das habe ich.
Jedes Wort. Dass sie nicht dazu geschaffen sei, m it einem
Eunuchen zu leben, dass sie eine Vollblutfrau sei. Ich habe gesagt, er solle sie verlassen, ab er er blieb. Wegen mir. Das hat er nicht gesagt, aber ich weiß, dass ich der Grund war.«
Harry hatte das Gefühl, in den letzten zwei Tagen in einem Fluss aus Tränen ges chwommen zu sein, doch dieses Mal kamen keine.
»Was ich zu sagen versuche«, sagte er und senkte den Kopf, um ihren Blick einzufangen, »i st, dass Ihr Vater nicht die gleichen sexuellen Gelüste hatte wie andere.«
»Sind Sie deshalb so
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