Nesbø, Jo - Harry Hole - 02
auch Harrys Hoffnung.
Dann blätterte er sein Notizbuc h durch und rief eine andere Nummer an.
»Hallo?«, kam es vom anderen Ende.
Er hielt den Atem an.
»Hallo?«, wiederholte die Stimme.
Harry legte auf. Runas Stimm e hatte beinahe schon etw as Flehendes gehabt. Er hatte wirklich keine Ahnung, warum er sie angerufen hatte. Ein paar Sekunden später m eldete sich sein Telefon. Er nahm den Hörer ab und erwartete, ihre Stimme zu hören. Es war Jens Brekke.
»Es ist mir eingefallen«, sagte er. Seine Stimme klang lebhaft.
»Als ich m it dem Fahrstuhl aus der Tiefgarage nach oben ins Büro gefahren bin, stieg im Erdgeschoss ein junges Mädchen zu.
Sie hat den Fahrstuhl in der fünften Etage wieder verlassen. Und ich glaube, sie erinnert sich an mich.«
»Warum sollte sie das tun?«
Ein nervöses Lachen w ar zu hören. »W eil ich sie eingeladen habe, mit mir auszugehen.«
»Sie haben sie eingeladen?«
»Ja. Sie ist eine der Frauen, di e für McEllis arbeiten, ich habe sie schon ein paar Mal gesehen. W ir waren allein im Fahrstuhl und sie lächelte mich derart süß an, dass es mir einfach rausgerutscht ist.«
Es entstand eine Pause.
»Und das fällt Ihnen erst jetzt ein?«
»Nein, aber mir ist erst jetzt wi eder klar geworden, dass das war, nachdem ich mit dem Botschafter nach unten gefahren bin.
Aus irgendeinem Grund dachte ich imm er, dass wäre am Tag 273
davor gewesen. Doch dann fiel mir ein, dass sie im Erdgeschoss zugestiegen ist, und das m uss ja heißen, dass ich von unten gekommen bin. Und ich bin ja sonst nie in der Tiefgarage.«
»Was hat sie geantwortet?«
»Sie hat ja gesagt, weshalb ich die Sache sofort wieder b ereut habe. Es war nur eine A rt Flirt, deshalb habe ich um ihre Karte gebeten und gesagt, dass ich m ich melden würde, damit wir einen Termin ausmachen könnten. Natürlich ist da nichts draus geworden, aber ich denke doch, dass sie sich an m ich erinnern wird.«
»Haben Sie ihre Karte noch?« Harry war vollkommen perplex.
»Ja, ist das nicht wunderbar?«
Harry dachte nach. »Passen Sie m al auf, Jens. Das alles ist schön und gut, aber so leicht ist die Sache nicht. Sie haben damit noch immer kein Alibi. Theoretisch hätten Sie m it dem Fahrstuhl gleich wieder nach unt en fahren können. Sie könnten zum Beispiel nur etwas geholt habe n, was Sie im Büro vergessen hatten, nicht wahr?«
»Oh.« Er hörte sich betroffen an. »Aber …«
Jens verstummte und Harry hörte einen Seufzer.
»Verflucht Harry, Sie haben recht.«
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KAPITEL 35
Harry schrak aus dem Schlaf auf. Durch das monotone Rauschen, das von der Taksin-Brück e herüberklang, hörte er das Brüllen eines Bootes, das auf de m Chao Praya startete. Eine Flöte pfiff und das Licht brannte in seinen Augen. Er richtete sich auf, legte den Kopf in die Hände und wartete darauf, dass das Pfeifen aufhörte, als ihm endlich klar wurde, dass es das Klingeln des Telefons war. Widerwillig nahm er den Hörer ab.
»Habe ich Sie geweckt?« Es war wieder Jens.
»Schon in Ordnung«, sagte Harry.
»Ich bin ein Idiot. Ich bin so dumm, dass ich mich fast nicht traue, Ihnen das zu erzählen.«
»Dann lassen Sie’s.«
Es wurde still, nur das Klicken einer Münze war zu hören, die in den Automaten gesteckt wurde.
»Ich hab einen Scherz gemacht, los, erzählen Sie.«
»O.k., Harry. Ich habe die gan ze Nacht wach gelegen und nachgedacht. Ich habe versucht , mich daran zu erinnern, was genau ich an diesem Abend im Büro gemacht habe. Wissen Sie, bei manchen Transaktionen, die Monate zurückliegen, kann ich mich noch an die Stellen hinter dem Komma erinnern, aber ich bin nicht in der Lage, m ich an einfache Fakten zu erinn ern, wenn ich unter dem Verdacht, einen Mord begangen zu haben, im Gefängnis sitze. Können Sie das verstehen?«
»Das ist ve rmutlich gerade desha lb so. Haben wir darü ber nicht schon einmal geredet?«
»O. k., aber jetzt ist auf jeden Fall etwas geschehen. Sie erinnern sich, dass ich ausgesagt habe, das Telefon an diesem Abend abgeschaltet zu haben, nicht wahr? Ich lag da und dachte, was für eine Scheiße das war, denn wenn es eingeschaltet 275
gewesen wäre und jemand angerufen hätte, dann hätte ich dieses Gespräch ja auf Band und damit einen Beweis. Da kann man die Zeitangabe ja auch nicht verste llen, wie es der Wachm ann bei diesem Video gemacht hat.«
»Auf was wollen Sie hinaus?«
»Mir ist eingefallen, dass ich selbst ja trotzdem nach draußen telefonieren kann, auch wenn das
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