Nesbø, Jo - Harry Hole - 02
überzeugen. Wenn sie schnell waren, konnten sie vielleicht noc h heute Abend einen Staatsanwalt finden und m it den nötigen Papieren bereitstehen, wenn Løken nach dem Essen zurückkam. W ährend er hin und her überlegte, nahm er das Nachtsichtgerät, schaltete es ein und sah aus dem Fenster. Es ging auf
einen Hinterhof hinaus und
unbewusst hielt er nach einem Fenster m it Fensterrahmen und Glasmosaik Ausschau, doch er sah nur die weiß gekalkten Wände im grünlichen Licht des Nachtsichtgeräts.
264
Harry sah auf die Uhr. Er war zu der Erkenntnis gelangt, dass er die Bilder wieder aufhänge n musste. Der Polizeichef m usste sich mit seinem Wort begnügen. Im gleichen Mom ent gefror ihm das Blut in den Adern.
Er hatte ein Geräusch gehört. Das heißt, tausend Geräusche, aber eines dieser tau send passte nicht in die m ittlerweile wohlbekannte Kakophonie der Straße. Außerdem ka m es aus dem Flur hinter der E ingangstür. Ein glattes Klicken. Öl und Metall. Als er den Luftzug spürte und erkannte, dass jemand die Tür geöffnet hatte, dachte er zuerst an Sunthorn, bis ihm klar wurde, dass derjenige, der he reingekommen war, so leise wi e nur möglich vorgegangen war. Von seinem Platz aus konnte er die Tür nicht sehen und er hielt den Atem an, während sein Hirn in rasender Eile die Biblio thek der Laute durchging. Ein Tonexperte in Australien hatte ihm erklärt, dass die Mem bran im Ohr de n Druckunterschied einer Million verschiedener Frequenzen heraushören kann. U nd dieses Geräusch stamm te nicht von einer Türklinke, die nach unten gedrückt, sondern von einer frisch geölten Pistole, die geladen wurde.
Harry stand wie ein lebendes Ziel hinten im Raum vor der weißen Wand und der Lichtschalter war auf der anderen Seite, dicht bei der Tür. Er nahm die große Schere vom Tisch, bückte sich und folgte d em Kabel der Architek tenlampe bis zur Steckdose in der W and. Dann riss er das Kabel heraus und rammte an seiner Stelle die Sche re mit voller Wucht durch das harte Plastik.
Ein blauer Funken schoss aus dem Kontakt, gefolgt von einem leisen Knallen. Dann wurde es stockdunkel.
Der elektrische Schlag lähm te seinen Arm und m it dem Gestank von verbranntem Plastik und Metall in der Nase sank er stöhnend an der Wand zu Boden.
Er lauschte, aber das Einzige, was er hörte, waren der Verkehr und das Klopfen seines eigenen Herzens. Es hämmerte so stark, 265
dass er es spüren konnte. Es war, als würde m an in vollem
Galopp auf einem Pferd sitzen. Von der Tür her hörte er, wie etwas vorsichtig zu Boden gestellt wurde, er begriff, dass sich der Betreffende die Schuhe ausgezogen hatte. Er hatte noch immer die Schere in der Hand. W ar dort ein Schatten, der sich bewegte? Es war unm öglich zu sagen, denn es war so dunkel, dass sogar die weißen W
ände verschwunden waren. Die
Schlafzimmertür knirschte, ge folgt von einem Klicken. Harry entnahm daraus, dass der andere versucht hatte, das Licht wieder einzuschalten, doch durch den Kurzschluss waren die Sicherun-gen in der ganzen W ohnung herausgeflogen. Auf jeden Fall verriet ihm das, dass sich die Person in der Wohnung auskannte.
Doch wenn es Løken gewesen wäre , hätte Sunthorn angerufen.
Oder nicht? Das Bild von Sunthorn am Autofenster mit einem kleinen Loch gleich hinter dem Ohr geisterte ihm durch den Kopf.
Er fragte sich, ob er versuchen sollte, sich zur Tür zu sch leichen, doch etwas sagte ihm , dass der andere genau darauf wartete. Wenn er die Tür öffnete, würde sich seine Silhou ette wie eine der Schießscheiben in der Schützenhalle von Økern abzeichnen. Scheiße! Vermutlich saß er jetz t irgendwo auf dem Boden und zielte auf die Tür.
Wenn er nur Sunthorn ein Zeiche n geben könnte! Im gleichen Moment registrierte Harry, dass er noch immer das Nachtsichtgerät um den Hals hängen hatte. Er setzte es vor die Augen, sah aber nur einen grünen Brei, als hätte jemand die Linsen mit Rotz verschmiert. Er drehte die Sc harfeinstellung bis zum Anschlag.
Noch immer sah er nicht scharf, aber jetzt konnte er den Um riss einer Person an der Wand auf der anderen Seite des Tisches ausmachen.
Harry konzentrierte sich, packte die Tischplatte m it beiden Händen und schob sie wie einen Ra mmbock vor sich her. Er hörte ein Stöhnen und das Knallen, als die Pistole zu Boden fiel, dann rutschte er über den Tisch und bekam etwas zu fassen, dass 266
sich wie ein Kopf anfühlte. Er legte seinen Arm um den Hals und drückte zu.
»Polizei«,
Weitere Kostenlose Bücher