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Neschan 02 - Das Geheimnis des siebten Richters

Neschan 02 - Das Geheimnis des siebten Richters

Titel: Neschan 02 - Das Geheimnis des siebten Richters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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weiterstolpern und zerrte wieder an Kumis Zügel. Das Lemak zeigte Geduld mit seinem Herren und folgte ihm.
    Nur ab und zu wagte Yonathan einen Blick durch die Falten der um den Kopf geschlungenen Decke. Er sah nicht viel, aber er kam dem hellen Fleck näher. Wie eine Lichtwolke ruhte jene Stelle bewegungslos inmitten des raubgierig zerrenden Sturms.
    Endlich hatte er sein Ziel erreicht. Doch jetzt wusste er nicht, was er mit seiner Entdeckung anfangen sollte. Er stand vor einer hellen, leuchtenden Wand, die aus Glas zu sein schien. Dahinter gleißte helles Sonnenlicht. Der Sturm schien so dicht vor dieser fremdartigen Grenzschicht weniger stark zu toben, als scheue er sich die unsichtbare Wand zu berühren.
    Aber Yonathan war neugierig. Vorsichtig streckte er die Hand nach dem durchscheinenden Vorhang aus und stellte verblüfft fest, dass die Finger, die Hand und schließlich der Arm bis zum Ellenbogen in das durchsichtige Medium eintauchten, ohne Widerstand zu spüren. Nur ein merkwürdiges Prickeln fühlte er. Sein Unterarm sah aus wie abgeknickt, als würde er ihn ins Wasser halten.
    Seine Hand hinter dem glasklaren Vorhang fühlte eine angenehme Wärme. Da der Sturm keine Zeichen des Nachlassens erkennen ließ, nahm Yonathan allen Mut zusammen, passierte mit einem einzigen, großen Schritt die Grenzschicht und tauchte ein in eine Flut von Licht.
    Anfangs war er so geblendet, dass er blind auf das Zentrum der Lichtsäule zutaumelte. Nur langsam gewöhnten sich die Augen an das goldgelbe Gleißen. Verblüfft stellte er fest, dass Kumis Zügel noch immer in seiner Hand lagen. Er hob den Kopf und sah in die blau-grünen Augen seines Lemaks.
    Für einen Moment hätte Yonathan schwören können, Kumis Blick wolle ihm etwas sagen. Schnell zog er Haschevet aus dem Köcher; der Stab in der Hand gab ihm stets Ruhe und Ausgeglichenheit. Dann begann er, seine Lage zu überdenken.
    Vor dem Sturm schien er nun sicher zu sein. Aber war dem Ort, an dem er sich befand, auch zu trauen? Er stand mitten in einem gewaltigen Zylinder, über dem die Sonne niederbrannte und der den dunklen, tobenden Sandsturm aussperrte. Das Licht war noch immer so hell, dass alles, was sich innerhalb des gleißenden Pfeilers befand, seltsam flach und farblos wirkte: die Hand, die den Stab hielt; Kumis Kopf; selbst der Mann da in seinem Rücken…
    Yonathan stockte der Atem. Gebannt starrte er auf die reglose Gestalt. Langsam drehte er sich um; Schultern, Hüften und Beine schienen sich nur widerwillig der Person zuzuwenden.
    Obgleich das helle Licht die Konturen im Gesicht des Mannes verwischte, wusste Yonathan doch sofort, dass dies keiner seiner Gefährten war. Trotzdem kam ihm diese hoch gewachsene, schlanke Gestalt bekannt vor. In einem Bogen näherte er sich dem wortkargen Besucher und betrachtete ihn misstrauisch. Der Mann war in ein graues Gewand gehüllt, das faltenreich zu Boden fiel und nur in der Körpermitte von einem gleichfalls grauen Gürtel zusammengehalten wurde. Eine über den Kopf gezogene Kapuze öffnete sich nur zu einem schmalen Spalt, der kaum einen Blick auf das äußerst blasse Gesicht mit den scharfen Zügen gewährte. Augen, deren Farbe Yonathan nicht bestimmen konnte, folgten jeder seiner Bewegungen.
    Etwas an diesem Mann jedoch war falsch, genau wie diese sturmabweisende Lichtsäule falsch war. Aber er konnte nicht sagen, was ihn irritierte. Inmitten strahlender Helligkeit tappte er im Dunkeln.
    »Dein Weg ist ziemlich beschwerlich, nicht wahr?«
    Obwohl es Zeit für ein begrüßendes Wort war, erschrak Yonathan. Die Stimme des Fremden klang freundlich, aber auf eine unbestimmbare Weise auch kalt.
    »Es geht so«, antwortete Yonathan kurz und ohne sein Misstrauen zu verbergen. Was stimmte nicht an diesem Mann?
    »Warum diese falsche Bescheidenheit?«, fragte die gefühllossanfte Stimme. »Du hast große Gefahren und Schwierigkeiten gemeistert – und das in deinem Alter!«
    Langsam dämmerte Yonathan eine unangenehme Erkenntnis, eine dunkle Erinnerung. Wie hatte doch die Schattengestalt im Schwarzen Tempel von Abbadon gesagt? »Ich kenne dich genauer, als du denkst, Yonathan. Du kriechst bereits viel zu lange Zeit unter meinen Augen dahin wie ein lästiges Insekt, das man mit dem Fuß zermalmt.« Ja, genau das waren die höhnischen Worte des Schattens.
    Endlich wusste Yonathan, was nicht stimmte: Diese Gestalt besaß keinen Schatten. Genau, das war es. Die Sonne stand hoch, aber da, wo sich zu Füßen Yonathans und Kumis

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