Neschan 02 - Das Geheimnis des siebten Richters
begeben.«
Yomi klopfte sich beim Gehen den Staub von den Kleidern und blickte Yonathan forschend an. »Du klingst ziemlich merkwürdig. Gibt es irgendwas, das dich beunruhigt hat?«
Yonathan starrte vor sich hin und suchte eine Antwort. »Ich erzähle es dir später. Lass uns erst ins Lager zurückkehren.«
»Also gut. Yehsir wird bestimmt schon mit ein paar passenden Worten auf uns warten; da kannst du Gift drauf nehmen.«
Yonathan lachte. »Das kann nicht schlimmer werden als das, was hinter uns liegt.«
Sie verließen den weiten Platz, in dessen Mitte der Schwarze Tempel kauerte wie eine Glucke des Bösen auf ihrer unheilvollen Brut. Durch einen weiten Torbogen gelangten sie auf die breite Straße, die geradewegs zum ehemaligen Hafen hinabführte. Erst jetzt erkannte Yonathan, wie sehr er in dem Gewirr aus Straßen und Gassen umhergeirrt war. Aber noch etwas anderes entdeckten er und Yomi, etwas, das den Schrecken der vergangenen Nacht wieder heraufbeschwor.
Unzählige jener Statuen, die Yonathan schon während der Nacht bemerkt hatte, standen in den Straßen. Doch jetzt konnte man erkennen, dass es sich hier nicht um Kunstwerke handelte.
»Schau doch, Yonathan, die sehen aus, wie… wie echte Menschen.«
»Die sehen nicht nur so aus, Yo. Das sind echte Menschen. Besser gesagt, das waren welche. Niemand wusste bis heute, wie Yehwohs Plage die Bevölkerung dieser Stadt hinweggerafft hatte – es lebte ja niemand mehr, der davon berichten konnte. Aber jetzt wissen wir es.«
»Du meinst wirklich, Yehwoh hat sie alle in Stein verwandelt?«
Tatsächlich waren die Figuren so vielfältig und so detailreich, dass über ihren wahren Ursprung kaum Zweifel aufkommen konnten. Dafür sprach auch, dass die vermeintlichen Kunstwerke einfach jedem und allem im Wege standen. Weder Wagen noch Pferde hätten die zugestellten Straßen benutzen können.
Die Menschen waren wohl völlig unerwartet zu Stein erstarrt, ohne Warnung. Wo sie gerade gingen und standen, aus heiterem Himmel.
Als die letzten Gebäude des ehemaligen Hafenviertels an Yonathan und Yomi vorbeizogen, schien es, als wiche eine schwere Last von ihren Schultern. Sie freuten sich jetzt geradezu auf die Standpauke, die sie gleich zu hören bekommen würden.
Gefangen im Sturm, gerettet im Grab
Der Tag war schon weit vorgeschritten. Jedoch eine weitere Nacht im Schatten Abbadons zu verweilen lockte auch niemanden. So trieb Yehsir seine Schutzbefohlenen zu größter Eile an. Alsbald zog die Karawane zwischen den Ruinen des Hafenviertels hindurch und suchte dann jede sich bietende Deckung, bis der Cedan hinter den gleichförmigen Wellen des goldgelben Wüstensandes verschwunden war.
Als die Gefahr, von dem gegenüberliegenden Cedan-Ufer aus entdeckt zu werden, endlich gebannt war, lenkte Yehsir sein Pferd neben das schaukelnde Lemak Yonathans. Der Rappe des Karawanenführers wirkte wie ein Fohlen neben dem großen weißen Wüstentier. Tatsächlich konnte man den buschigen, dunklen Haarschopf Kumis als höchsten Punkt des gesamten Zuges bezeichnen – das heißt nicht ganz, denn über dem Nest aus Lemakhaaren kreisten unermüdlich die wachsamen Augen des Masch-Maschs, die die vorüberziehende Wüstenlandschaft aufmerksam musterten.
»Erzähl mir noch einmal von deinen Erlebnissen in Abbadon«, eröffnete der Schützende Schatten das Gespräch. »Diese Schattengestalt hat wirklich gesagt, sie kenne dich durch Sethurs Bericht?«
»Er sagte, Sethur habe Recht gehabt und ich sei ein kühner junger Bursche.« Yonathan lächelte etwas verlegen.
»Was hat er dann gesagt?«
›»Wie gut, dass ich mich selbst darum gekümmert habe‹, waren seine Worte. Hast du etwa eine Ahnung, wer dieser Schatten war, der mich zerquetschen wollte wie eine
Weintraube?«
Der Schützende Schatten schwieg grübelnd.
»Nun sag schon, Yehsir, du vermutest doch irgendwas. Wer war dieses unheimliche Wesen, dass mich durch die halbe Stadt gelockt hat?«
»Ich kann es dir nicht genau sagen, Yonathan.«
»Ich spüre aber, dass du einen Verdacht hast…«
»Du hast doch nicht den Stab eingesetzt, um meine Gedanken zu lesen?«
»Nein.« Yonathan war sich selbst nicht so sicher, wann Haschevet ihm half und wann nicht. »Jedenfalls nicht bewusst«, verbesserte er sich. »Außerdem kann man durch das Koach gar keine Gedanken lesen. Im besten Fall spüre ich, wie andere empfinden – mehr aber nicht!«
»Das kommt aufs Gleiche hinaus, Yonathan. Man drängelt sich nicht in den
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