Neschan 02 - Das Geheimnis des siebten Richters
ein dunkler, lichtarmer Fleck befand, sah er bei dem Fremden nichts, nur Sonnenlicht. Der Schatten in Abbadon und dieser graue Mann ähnelten sich: Beides waren Sinnestäuschungen, raffinierte Maskeraden.
Ein kurzer Versuch, die Gefühle der grauen Gestalt mit Hilfe des Koachs wahrzunehmen, bestätigte Yonathans Vermutung. Haschevet zeigte nur ein schwarzes Bewusstseinsloch, in dem ein Dunst eiskalter, empfindungsloser Feindseligkeit schwebte. Yonathan unterdrückte ein Schaudern. Hatte Yehsir nicht auch beunruhigende Vermutungen gehegt? Nun, auch Yonathan war beunruhigt. Auch er hatte sich Gedanken darüber gemacht, wer hinter der unheilvollen Gestalt im Schwarzen Tempel stecken konnte. Und er war immer nur auf einen Namen gekommen – einen wahrhaft beunruhigenden Namen!
Aber das Koach trotzte der kalten Faust, die nach Yonathans Herz griff. Es flößte ihm Kraft ein. Yehwoh hatte oft genug bewiesen, dass er seinen Stabträger unterstützen konnte, selbst wenn die Situation ausweglos erschien. Diesmal wollte sich Yonathan nicht verunsichern lassen. Er beschloss den Besucher auf die Probe zu stellen. Das Kinn in die Höhe reckend, erhob er herausfordernd die Stimme.
»Du bist wohl nicht unbeteiligt an diesen Gefahren!«
»Oh, oh«, erwiderte der Fremde spöttisch. »Der Knabe verfügt über Verstand. Ich behaupte, dass ich bei allen Unbilden beteiligt war, die dir begegnet sind auf deiner Reise. Ich muss jedoch zugeben, dass du dich beachtenswert gehalten hast!«
»Wenn du endlich eingesehen hast, dass es nichts nutzt, mir Stöcke zwischen die Beine zu werfen, dann kannst du mich ja jetzt in Ruhe lassen.«
»Deshalb spreche ich mit dir. Ich möchte dir ein Geschäft vorschlagen.«
»Was kann das schon für ein Handel sein?«
»Es ist ein gutes Geschäft«, versicherte der Graue schnell. »Du kannst mit einem Schlag all deinen Schwierigkeiten ein Ende bereiten. Aber das ist noch nicht alles. Wenn du von hier aus den kürzesten Weg zum Cedan wählst, dann wirst du ein Schiff finden. Es bringt dich direkt nach Cedanor zurück. Der Kaiser wird nicht zögern dich wieder mit offenen Armen aufzunehmen. Als ständiger Gast an seinem Tisch wird er dein Wort bald schätzen, und ich verspreche dir: In weniger als einem Jahr wirst du Herrscher in Cedanor sein. Ganz Neschan wird zu dir aufblicken! Selbst das dunkle Reich im Süden wird keine Gefahr mehr für dich darstellen.«
Das Angebot klang verlockend, aber Yonathan antwortete nur: »Ich, ein Knabe, soll Kaiser des Cedanischen Reiches werden? Das ist ein höchst komischer Vorschlag, Bar-Hazzat. Das ist doch dein Name, nicht wahr? Wer sonst könnte mir solch einen Vorschlag machen als der erste Diener desjenigen, der diese Welt erschuf? Er machte sie, weil er Knechte suchte, die vor ihm kriechen. Und jetzt hofft ihr, dein Herr und du, durch mich Yehwohs Pläne zu vereiteln und doch noch euer abscheuliches Ziel zu erreichen.« Langsam kam Yonathan in Fahrt. »Nein. Nein! Nicht mit mir. Du kennst doch die Prophezeiung über die sieben Verwalter des Königs von Tränenland, oder? Der böse Fürst des geschundenen Landes wurde schließlich in Ketten gelegt. Genau das wird dir widerfahren, wenn erst der siebte Richter sein Amt angetreten hat. Genau das, Bar-Hazzat!«
Der grauen Gestalt schien der Gesprächsstoff ausgegangen zu sein. Sie glich einer jener zahllosen Statuen auf den Straßen von Abbadon. Und doch war diese Starre eine andere, eine bedrohliche. Im Blick des Grauen lag eine solche Feindschaft, dass Yonathans Hand sich fester um den Stab schloss.
Dann begann Bar-Hazzat in die Höhe zu wachsen und weil seine Augen den Blick des aufsässigen Knaben nicht losließen, neigte sich das fahle Gesicht des temánahischen Herrschers langsam in den Schatten der grauen Kapuze. Als das grelle Sonnenlicht zurückwich, erschien ein Paar rot glühender Kohlen in dem Halbdunkel, zwei karminrot glimmende Punkte, über denen schließlich ein drittes, größeres Licht aufleuchtete. Furcht und Grauen befiel Yonathan.
Endlich zeigte sich eine Regung in dem schmalen, bleichen Gesicht: ein ungewöhnlich feindseliges Grinsen. Die Stimme, die Yonathan jetzt zu hören bekam, klang nicht mehr einschmeichelnd. Sie hatte jede Spur von Menschlichkeit verloren, klang kalt, verzerrt, hohl. Es war die Stimme des Schattens von Abbadon.
»Nun gut, Yonathan. Dies war meine letzte Warnung. Von nun an gilt: du oder ich. Sollten wir uns nochmals begegnen – was ich sehr bezweifle –, so wirst
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