Neschan 02 - Das Geheimnis des siebten Richters
auch zweifelte er nicht an der Richtigkeit seines Handelns. Vielmehr war es die Ungewissheit über Ort und Zeitpunkt seiner nächsten Prüfung, die ihn beunruhigte. Würde er auch weitere Herausforderungen so bestehen können wie die vorausgegangenen?
Aber er würde seinen Weg gehen. Für alles andere würde schon der sorgen, der diesen Weg für ihn bestimmt und bis jetzt immer wieder geebnet hatte – der Weg, der seinen Anfang genommen hatte im fernen Kitvar und auf der Weltwind; der ihn dann quer durch das Verborgene Land geführt hatte, an der sechsfingrigen Hand eines grünen Wunders; und schließlich über die Fluten des großen Golfes hinweg, auf dem Rücken eines Traumes.
II. Erfüller der Prophezeiung
»Man muss sich nicht erst die Finger verbrennen, um zu wissen, dass Feuer heiß ist.« Die Antwort gefiel Jonathan. Bisher hatte er – erfüllt von einer gewissen Mattigkeit – die Unterhaltung zwischen seinem Großvater und diesem Mister Marshall eher mit gedämpftem Interesse verfolgt. Als der Besucher, der sich um eine Anstellung als Privatlehrer für den jüngsten Jabbok-Spross bewarb, allerdings so frei heraus zugab, dass er keinerlei militärische Ehren erworben hatte und auch wenig Wert darauf legte, war Jonathans Aufmerksamkeit erwacht.
»Ich muss allerdings eingestehen, dass ich die letzten zehn Jahre in Indien zugebracht habe – als Lehrer nämlich«, ergänzte Marshall. »Das Secretary of State for Scotland sandte mich nach Übersee, um die Kinder von dort lebenden Landsleuten zu unterrichten.«
»Und was hat Sie dazu bewogen, die sonnigen Kolonien zu verlassen und wieder auf unsere feuchtkalte Insel zurückzukehren?«, wollte Lord Jabbok wissen.
Marshall zögerte. »Darf ich offen sein, Mylord?«
»Darauf bestehe ich.«
»Ich habe mich in letzter Zeit immer öfter gefragt, ob irgendein Volk das Recht hat sich als Herr über ein anderes zu erheben.«
Die buschigen Augenbrauen des alten Lords hoben sich. »Sie bewerben sich hier gerade um eine sehr verantwortungsvolle Stelle. Es geht um die Erziehung meines Enkels. Finden Sie nicht, dass da solche Äußerungen ziemlich gewagt sind, junger Herr?«
So jung sieht er nun auch nicht mehr aus, dachte Jonathan bei sich; aber Mut hat er wirklich!
»Verzeiht, Mylord, aber ich ging davon aus, dass dies das Haus einer schottischen Familie ist. Und ich erinnere mich nicht, dass Schottland irgendwo in der Welt Kolonien besitzt«, parierte Marshall angriffslustig.
Ein heimliches Lächeln huschte über das Gesicht des alten Lords. Dann erwiderte er mit unbewegter Miene in beinahe schneidendem Tonfall: »Da mögen Sie Recht haben, Mister Marshall. Aber immerhin gibt es einige Hochland-Regimenter, die in Indien Dienst tun. Was die Jabboks betrifft, so haben sie der Krone vor langer Zeit Treue geschworen, zu einer Zeit, da die schottische und die englische Krone noch auf einem Haupte vereint waren. Als meine Vorfahren ein Komplott gegen Ihre Majestät, Anna Stuart, aufdeckten, wurden sie dafür in den Adelsstand erhoben und erhielten die Ländereien, auf denen Sie sich gerade befinden. Seit damals halten sich die Jabboks an ihren Schwur – auch wenn die Engländer seit George I. nicht viel getan haben, um sich die Zuneigung der schottischen Bevölkerung zu verdienen.«
»Um der Wahrheit die Ehre zu geben, Mylord, haben sie sich eher alle Mühe gegeben das Gegenteil zu erreichen. Das Volk scheint schon seit langem eine andere Vorstellung von Gerechtigkeit zu besitzen als die kleine, aber sehr einflussreiche Oberschicht, die sich offenbar nur ihren eigenen Interessen gegenüber verpflichtet fühlt. Die Unterhauswahlen in der letzten Woche haben das, glaube ich, deutlich gezeigt, und wenn es jetzt tatsächlich zu einer Labour-Regierung kommt, wie nicht wenige meinen, dann ist das wohl das beste Zeichen dafür, dass die Konservativen mit ihren verstaubten Ansichten endgültig auf dem Rückzug sind.«
Es war nicht zu übersehen, dass der Lehrer alle Hoffnung auf eine Anstellung im Hause Jabbok hatte fahren lassen. So warf er nun jede Scheu ab und redete, wie ihm die Worte gerade in den Sinn kamen. »Nehmen wir doch nur die letzten paar Monate: Im Juli hat Premierminister Baldwin das Ende der Besetzung des deutschen Ruhrgebiets durch die Franzosen gefordert; sie bringe ›die Wiederherstellung der Welt in Gefahr‹, hatte er gesagt. Wenig später ließ der Earl seinen Außenminister sogar verkünden, das Ganze sei vertragswidrig.
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