Neschan 02 - Das Geheimnis des siebten Richters
könnten.«
Yonathan hatte es nun, so kurz vor dieser wichtigen Zwischenstation seiner Reise, sehr eilig. »Das klingt, als hätten wir ein schönes Stück Weg vor uns«, drängte er. »Am besten, wir verlieren keine Zeit.«
Und bevor Yomi und Gimbar einen verdutzten Blick wechseln konnten, war Yonathan ihnen schon zehn Schritte voraus.
War die Hafenstadt Meresin für Yonathan schon ein Wunder an Vielfalt und Hektik gewesen, so übertraf Cedanor sie bei weitem. Die Unterstadt war ein Gewirr aus Kanälen und Gräben, aus Straßen und Gassen, Plätzen und Winkeln, ein Gewimmel von Männern und Frauen, Alten und Kindern, Reich und Arm, ein unüberschaubares Gemisch von aromatischen Düften und abscheulichem Gestank, von lebensfroher Musik und nervtötendem Geschrei. Cedanor war alles in einem: der Ursprung und das Zentrum des Lebens auf Neschan; aller Dinge, die die Sinne liebkosten oder sie peinigten; alles Guten und alles Schlechten.
Auch als sich die drei Fremden über unzählige Brücken und Stege hinweg ihren Weg in das Handwerkerviertel bahnten, änderte sich nicht viel an der allgemeinen Betriebsamkeit. War die Unterstadt, nahe dem Neuen Hafen, vor allem von Handelskontoren, Lagerhäusern und stimmgewaltigen Händlern geprägt, die ihre Waren »frisch vom Schiff« an den Mann brachten, so bestimmten hier Gegenstände des täglichen Gebrauchs das Bild in den Gassen: kupferne Töpfe und Pfannen, leuchtend gefärbte Stoffe und kunstvoll geschnitztes Gerät, dessen Sinn und Nutzen man oft erraten musste. Stickig und dunkel war es hier in dem engen Gassengewirr. Tatsächlich schien sich, da wo man sich von einem Haus zum gegenüberstehenden fast die Hand geben konnte, die Sonnenstrahlen nur auf Schleichwegen in das geschäftige Treiben zu wagen.
Die lichtscheuen Elemente, deren Augen im angrenzenden Bezirk der Tagelöhner lauernd hinter Hausecken und aus Türspalten hervorschielten, trieben die drei Gefährten zu einer äußerst forschen Gangart an. Yonathans einzig auffällige Gepäckstücke, ein Stab mit goldenem Knauf und ein vor Neugier aufgeplustertes Pelzbündel, waren in dem Köcher auf seinem Rücken verstaut. Insgesamt boten die drei Fremden in ihrer von langer Reise verschmutzten und teilweise zerrissenen Kleidung deshalb einen so uninteressanten Anblick, dass die Blicke, die sie von allen Seiten musterten, ihre Aufmerksamkeit bald wieder anderen Dingen zuwandten.
Gimbar, der gerade amüsiert zuschaute, wie eine wohlbeleibte Dame einen kleinen Mann mit derben Schimpfworten und einem Tischbein durch die Gassen trieb,entging nur knapp einem gemeinen Attentat: Über ihm wurde eine große Schüssel fauliger Abfälle entleert. Jemand keifte: »Schert euch fort von hier und kümmert euch um euren eigenen Dreck.« Yomi konnte Gimbar im allerletzten Augenblick zur Seite reißen und um ein Haar wären die beiden in der Gosse gelandet, einem ständigen Strom, der mitten in der Gasse alles talwärts führte, was die Bewohner in den Häusern nicht mehr benötigten – faulige Abfälle waren noch das Kostbarste darunter.
»Jetzt weiß ich, warum Yomi heute früh sagte, wir müssten uns durch den Bezirk der Tagelöhner schlagen«, meinte Yonathan lakonisch und setzte seinen Weg nach Süden fort.
Dann kamen sie an den Kasernen der kaiserlichen Garde vorbei – waffenstarrende Bollwerke zwischen den armseligen Behausungen des einfachen Volkes und den noblen Unterkünften der Staatsbediensteten. Yomi wagte es nicht, seine Begleiter über kleine Seitengassen mitten durch das Beamtenviertel zu führen. Hier gab es zu viele wachsame Augen, die jeden Fremden mit äußerstem Misstrauen betrachteten.
Die geraden, breiten Straßen des Beamtenviertels liefen wie die Strahlen der Sonne gerade auf den Palastberg zu, einen gigantischen Felsen, auf dem hoch oben der »Thron des Himmels« strahlte, wie man den blauen Palast des Kaisers nannte. An manchen Tagen, so wusste Yomi zu erzählen, verschmolz die Farbe des Sedin-Palastes so sehr mit dem Himmelsblau, dass er unsichtbar wurde. Dann konnte man glauben, der Himmel selbst habe den Kaiser samt Schloss zu sich genommen und einen leeren Felsen zurückgelassen – eine optische Täuschung, die den für dramatische Effekte sehr empfänglichen Kaiser stets aufs Neue begeisterte.
Der Weg wurde nun steiler und vor Anstrengung keuchend bemerkten die drei, wie sich die Häuser allmählich zu Villen und die Villen schließlich zu Palästen wandelten. Zwar gab es hier keine Kasernen
Weitere Kostenlose Bücher