Neschan 02 - Das Geheimnis des siebten Richters
er. »Die Erinnerung. Das Koach wirkt in dir, Yonathan. Wie in allen Trägern Haschevets.«
»Die anderen sind aber Richter gewesen. Ich bin nur ein Bote«, schränkte Yonathan ein.
»Lass uns später darüber sprechen«, schlug Baltan vor. »Jetzt wollen wir deine Geschichte hören.«
Yonathan fühlte sich in dem riesigen Schlafgemach ziemlich verloren; Navrans Hütte in Kitvar hätte sicher zweimal reingepasst. Die Wände waren farbenprächtig bemalt, mit Blumenornamenten und Szenen aus dem Sepher Schophetim, der Fußboden war mit verschiedenen Holzarten getäfelt – und sein Bett hatte sogar ein Dach!
Ein Klopfen an der Tür erlöste ihn von seinem Unbehagen.
»Ja? Wer ist da?«
Die Tür schwang auf und Baltan trat herein.
»Ich bin’s. Ich hatte schon erwähnt, dass wir uns noch über etwas unterhalten sollten. Du wirst zwar müde sein, aber darf ich dich trotzdem stören?«
Er durfte. Und Yonathan überfiel ihn auch gleich mit einer Frage, die ihn schon den ganzen Abend plagte.
»Manchmal glaube ich, alle kennen sich besser in meinem Leben aus als ich selbst – sogar dein Hausdiener, Gatam! Woher wusste er, dass Navran zu den Charosim gehört? Selbst mir war das bis zu dem Tag, als ich aus Kitvar abreiste, unbekannt.«
Baltan lächelte. »Höre ich da verletzten Stolz heraus?«
Yonathan schaute zu Boden. War er wirklich so leicht zu durchschauen?
»Ich kann dich gut verstehen«, sagte Baltan. »Mir ginge eswohl ebenso. Übrigens sind die Namen der Charosim zwar nur wenigen Bewohnern Neschans geläufig, aber sie waren nie ein Geheimnis. Schon gar nicht für Gatam, der mein Vertrauter ist. Niemand weiß mehr über mich als er, außer Scheli und Schelima natürlich und den Unsrigen.«
Yonathan runzelte die Stirn. »Den ›Unsrigen‹?«
Baltan nickte, und er senkte seine Stimme. »Deswegen wollte ich dich sprechen. Hat dir schon einmal jemand von den Träumern erzählt?«
Yonathan schüttelte den Kopf. »Die Träumer? Nicht dass ich… Doch!«, rief er dann. Eine Erinnerung blitzte auf. »Din-Mikkith erwähnte einmal etwas von Träumern. Ich war gerade aus der Bewusstlosigkeit erwacht nach meiner Begegnung mit dem Grünen Nebel. Aber ich dachte, Din-Mikkith meinte mit den Träumern die Richter Neschans.«
Der weißhaarige Kaufmann schaute sich um und antwortete beinahe flüsternd: »Vielleicht war deine Vermutung gar nicht so falsch, Yonathan. Ich glaube, es wird Zeit, dich in einige… Dinge einzuweihen.«
Yonathan wusste nicht recht, ob er diese Dinge überhaupt wissen wollte. Baltan war jetzt so ernst – vielleicht war das, was er ihm mitteilen wollte, mit unangenehmen Folgen verbunden.
Die Geschichte der Träumer von Neschan, so erklärte Baltan, sei zwar nur wenigen bekannt, aber sie sei so alt wie die der Menschen selbst. Die Träumer dienten den Richtern Neschans als Augen, als Boten und als Urteilsvollstrecker. Seit Goel den Garten der Weisheit nicht mehr verlassen durfte, zögen sie als Charosim durch die Welt und lehrten die Menschen Yehwohs Weg.
»Und du und Navran, ihr seid auch Träumer.« Yonathan fragte dies nicht, er stellte es fest, als hätte er es immer gewusst.
Baltan lächelte hintergründig. »Ich sehe, die Macht des Stabes wirkt bereits recht stark in dir. Es dürfte schwer fallen, vor dir etwas verbergen zu wollen. Aber kommen wir auf die Träumer zurück. Sie sind nicht etwa irgendein Geheimbund, wenn auch viele Geheimnisse sie umgeben. Eines davon ist ihre Lebensspanne – sie werden alle sehr alt!«
Yonathan nickte. »Ich erinnere mich. Din-Mikkith hat auch davon gesprochen. Aber wie gesagt: Ich dachte, er meinte die Richter.«
»So lange wie die Richter leben die Träumer nicht, aber manche von ihnen sollen dreihundert Jahre alt geworden sein; sie selbst kennen ihr wirkliches Alter nicht einmal so genau. Es ist immer dasselbe: Plötzlich tauchen sie auf, irgendwo auf Neschan, und keiner von ihnen kann sich an sein vorheriges Leben erinnern – als wäre es ein Traum, den man sofort wieder vergisst. Daher ihr Name. Die meisten Legenden, die sich um die Unsrigen ranken, sind nichts als Phantastereien. Aber einiges stimmt auch: Jeder von ihnen besitzt besondere Kenntnisse auf verschiedenen Gebieten. Einige von ihnen haben neue Methoden für den Ackerbau eingeführt. Ein anderer hat vorgemacht, wie man Bücher druckt. Wiederandere sind bedeutende Ärzte. Ich selbst weiß alles über Stoffe, Farben und Webtechniken. Doch so unterschiedlich unser Wissen auch sein mag,
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