Neschan 02 - Das Geheimnis des siebten Richters
genug für Yonathan die Gefühle des listigen alten Kaufmanns zu erwidern. Sie beide waren Träumer, gehörten zu den Unsrigen, wie sie sich selbst nannten. Möglicherweise konnten sie sich alle gegenseitig erkennen, so als besäßen sie ein Mal auf der Stirn, ein nur für sie sichtbares gemeinsames Zeichen. Yonathan wusste inzwischen, dass Baltan vor über zweihundert Jahren ausgerechnet durch Navran Yaschmon von seinem verborgenen Wesen als Träumer erfahren hatte. Seitdem hatte zwischen den beiden Männern eine enge Freundschaft bestanden, ein Band, das Zeit und Raum nicht sprengen konnten. Und auch Yonathan spürte, dass er in diesem alten Mann mit den klugen Augen und dem gewitzten Lächeln einen älteren Bruder gefunden hatte, dessen Zuneigung stärker war als der Tod.
Baltan und Navran hatten viele gemeinsame Reisen unternommen, bis sie schließlich in ihre jetzigen Zuteilungen gegangen waren – als Fischer im sturmgepeitschten Kitvar der eine, als reicher Kaufmann im Herzen des Cedanischen Reiches der andere. Sie waren wie das rechte und das linke Auge Goels und sie blickten der Zeit entgegen, in der der Stab Haschevet wieder auftauchen musste, um vom Kommen des siebten und letzten Richters Neschans zu künden.
Als Kaufmann unternahm Baltan weite Reisen und so hatten er und Navran sich in den vergangenen zweihundert Jahren immer wieder treffen können. Zwar nur alle zehn bis zwanzig Jahre, aber was spielten solche Zeiträume schon für eine Rolle bei ihnen!
Yomi gegenüber zeigte Baltan eine herzliche Gastfreundschaft und der lange Seemann freundete sich bald mit Scheli an, die ihre Gäste mütterlich umsorgte. Auf der Weltwind hatte Yomi gelernt sich in vielen Bereichen nützlich zu machen. Jetzt ließ er keine Gelegenheit aus, seine Fertigkeiten der anmutigen Ehefrau Baltans anzubieten, sodass es hin und wieder zu freundlichen Zurechtweisungen Schelis kam, die sich nicht zum Gast im eigenen Hause machen lassen wollte.
Baltan wurde aus diesem Verhalten Yomis anfangs nicht recht schlau. Doch Yonathan konnte den Kaufmann beruhigen.Yomi hatte ihm verraten, dass Scheli große Ähnlichkeit mit seiner Mutter hatte und Yonathan wusste, wie sehr Yomi noch immer über den Verlust seiner Eltern trauerte. Die schrecklichen Erlebnisse seiner Kindheit, der Überfall der Horden Bar-Hazzats auf Darom-Maos, Yomis Heimatstadt, lebten immer noch in den Alpträumen des jungen Mannes fort. So ließ Baltan Yomi gewähren, und Scheli genoss es, dass jemand ihr zur Hand ging, ohne dass sie darum bitten musste.
Das Interesse Schelimas für die Hausarbeit hatte stark nachgelassen – zugunsten eines ehemaligen Piraten. Am Tage nach der Ankunft hatte Gimbar von Schelima einen umfassenden Überblick über das gesamte Anwesens erhalten.
In den kommenden Tagen wollten sie dies auf ganz Cedanor ausdehnen.
Yonathan betrachtete diese Unternehmungslust mit gemischten Gefühlen. Er fürchtete die Spione Sethurs. Andererseits war Gimbar in den neuen, edlen Kleidern, mit denen Baltan seine Gäste ausgestattet hatte, kaum wieder zu erkennen. Er sah aus wie ein Sohn aus reichem Hause, also wie Hunderte anderer junger Männer auf Cedanors Straßen auch. So vergaß Yonathan seine Bedenken allmählich – bis zum Abend des dritten Tages.
Baltan und seine Gäste erwarteten noch späten Besuch. Es galt ein Versprechen einzulösen, das Yonathan seinem Freund beim Anlaufen Cedanors gegeben hatte: ein Wiedersehen mit Kapitän Kaldek, Yomis Adoptivvater.
Im Laufe des Tages war es Yomi gelungen, alle Eingeweihten mit seiner Nervosität anzustecken. Selbst die sonst so ruhige Scheli konnte kaum noch ertragen, wenn der schlaksige Seemann ihr seine Hilfe anbot. Schon am Vormittag hatte er einen Tonkrug am Küchenboden zerschellen lassen, später, bei der Vorbereitung des Mittagessens, hatte er ein Salztöpfchen in der Suppe versenkt und am Nachmittag dem nicht mehr ganz jungen Gatam versehentlich den Rock in Brand gesetzt. Jetzt, am Abend, saß Yomi im bequemsten Sessel, über den Baltans Arbeitszimmer verfügte, und wirkte dennoch nicht entspannt. Scheli hatte ihm jede Hilfe verboten
– die Gesundheit ihrer Familie und der Bediensteten läge ihr zu sehr am Herzen.
Endlich kam Gatam herein, warf Yomi einen finsteren Blick zu und meldete, dass der Besuch angekommen sei. Yonathan und Gimbar atmeten auf; ihr Bemühen, Yomi abzulenken, hatte an ihren Kräften gezehrt.
Noch ehe der oberste Diener den Ankömmling hereinbitten konnte, hörte man von
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