Neschan 02 - Das Geheimnis des siebten Richters
dem Thron halten können, wenn er nicht ein intelligenter, listiger und manchmal auch rücksichtsloser Herrscher gewesen wäre. Wie jeder, der nach dem Sepher Schophetim lebte, nur zu genau wusste, war der Eifer Zirgis’ für Yehwoh nicht ungeteilt. Zwar bekämpfte er die Machtgelüste des dunklen Herrschers von Temánah, wollte aber auch nicht zulassen, dass fremde Glaubensansichten unterdrückt wurden. Aus diesem Grunde unternahm Zirgis fast nichts gegen die schwarz gewandeten Priester des Südlichen, die ihre Religion bis in die letzten Winkel des Kaiserreiches trugen. Zirgis vertrat den Standpunkt, dass sich der wahre Glaube schon selbst durchsetzen werde.
Kein Wunder also, dass Goel, der Vorfahr des Kaisers, Vorbehalte gegen dessen Denken hegte. Auch Baltan bedauerte es, dass der Kaiser nicht entschiedener für den wahrer Gott eintrat. »Das Volk ist wie sein Kaiser. Wenn er nachlässig ist, dann sind es seine Untertanen allemal«, meinte er. »Außerdem glaube ich, dass die schwarzen Priester mehr sind, als sie zu sein vergeben. Sie dürfen in jede Stadt und in jedes Dorf. Bar-Hazzat hätte sich keine besseren Spione erwählen können.« Er schüttelte resigniert den Kopf. »Ich versuche, wo immer möglich Zirgis an seine Pflichten gegenüber Yehwoh zu erinnern, aber der Kaiser hat seinen eigenen Kopf. Manchmal hört er auf mich, ein andermal schickt er mich fort und hält mich wochenlang von sich fern.«
»Wie lange hast du ihn nicht mehr gesprochen?«, wollte Yonathan wissen.
»Zwei volle Monate! Ich hatte Zirgis ermahnt die Feierlichkeiten anlässlich seines Thronjubiläums zu nutzen, um die Aufmerksamkeit des Volkes nicht auf sich selbst, sondern auf Yehwoh zu lenken. Doch er wollte nichts davon hören. Sein besonderer Liebling, Barasadan, erster Baumeister, Künstler und Waffenschmied zugleich, hat anscheinend einigeganz besondere Überraschungen geplant.«
»Ich glaube, jeder in Cedanor hat schon von Barasadan oder von Bara, wie ihn das Volk nennt, gehört.«
»Richtig. Bara gilt als Genie und die ›Überraschungen‹, die er zusammen mit Fürst Phequddath ausgeheckt hat, sollen Zirgis vor dem Volke endgültig in die Reihe der unvergessenen Kaiser von Neschan einreihen.« Es klang bitter, als Baltan dies sagte.
»Wir haben es hier also mit einem Mann zu tun, der keine Gelegenheit auslässt seine Macht auszudehnen und sein Ansehen beim Volk zu verbessern«, resümierte Yonathan.
Baltan nickte grimmig. »Ich kann mir schon denken, worauf du hinauswillst, Yonathan. Je länger wir darüber sprechen, umso mehr glaube ich, dass er dich und den Stab Haschevet – wenn er denn wirklich von ihm weiß – ebenfalls in diesem Sinne benutzen will.«
»Hm.« Yonathan spielte an seinem Ohrläppchen. »Ich glaube, wir sollten die Boten des Kaisers nicht länger warten lassen«, sagte er dann. »Lasst mich nur noch den Köcher für den Stab holen gehen.«
Der Ritt durch die Straßen Cedanors, hinab zum Fuß des Palastberges und wieder hinauf zum »Thron des Himmels«, geriet für Yonathan zu einem Spießrutenlauf. Unter den warmen Strahlen der Wintersonne lockte die Eskorte das Volk aus den Häusern. Alle wollten sehen, wen des Kaisers Leibgarde da mit so viel Aufwand beschützte.
Im Schatten der Pinien, die den Weg am Fuß des Schlossberges säumten, wurde es ruhiger und kühler; Yonathan begann den warmen Umhang zu schätzen, mit dem Baltan ihn ausgestattet hatte. Während die zwölf Reiter den gewundenen Pfad zum Palast emporritten, wuchsen die Anlagen zu gewaltiger Größe. Oben schien man sie bereits zu erwarten: Die Posten am äußeren Tor ließen sie ungehindert passieren. Das Durchqueren der Festungsmauer glich einem Ritt durch einen Tunnel, so dick war der Befestigungswall, der den »Thron des Himmels« abschirmte. Als sie endlich das innere Tor passierten, das den Blick auf den Palastbezirk freigab, verschlug es Yonathan den Atem.
In der Mitte eines weiten Areals stand ein gewaltiger Kubus aus leuchtend blauem Sedin-Gestein. Der Würfel galt als das größte Gebäude Neschans. Er hatte eine Seitenlänge von vier mal vier mal vier mal vier – oder zweihundertsechsundfünfzig
– Fuß. Dieses Maß war, ebenso wie die kubische Form, Ausdruck einer jahrtausendealten religiösen Symbolik, ein Sinnbild für vollkommene, göttliche Ausgeglichenheit. Gerüchten zufolge sollte es ein noch höheres Bauwerk geben: den Schwarzen Turm von Gedor. Doch Temánah lag außerhalb der bekannten Welt und das Gerede
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