Neschan 02 - Das Geheimnis des siebten Richters
über die himmelhohe Warte Bar-Hazzats wurde wohl mit Recht ins Reich der Märchen und Legenden verbannt.
Der würfelförmige Sedin-Palast aber war wirklich. Er wirkte keineswegs so plump und klobig, wie man es angesichts seiner schlichten Grundform hätte vermuten können, Tambar – vielleicht der größte Baumeister der letzten tausend Jahre – hatte hier ein Meisterwerk geschaffen, das in seinem Zusammenspiel aus Ebenmäßigkeit und kunstvollen Strukturund Farbelementen auf Neschan einmalig war. Vom Erdboden aufwärts wechselten sich Säulengänge und Reihen von bogenförmigen Fenstern ab. Unten standen die Säulen weit auseinander und ließen das Sonnenlicht durch die farbigen Glasfenster fast unbehindert in den Thronsaal strömen. Nach obenhin wurden die Kolonnaden zusehends niedriger und die Abstände zwischen den Säulen immer schmaler. Zusammen mit den hellblauen Sedin-Elementen entstand dadurch der verblüffende Eindruck einer luftigen Fassade, deren einzelne Teile gleichsam im Himmel zu schweben schienen.
Yonathan fand kaum Gelegenheit die vielen Einzelheiten, wie die Goldverzierungen an den Rundbögen und Kapitellen oder die Figuren in den Glasfenstern, genauer zu betrachten, denn die Eskorte hatte nun an der Ostseite des Kubus vor einer ausladenden, zweiflügligen Tür mit kostbaren Schnitzereien Halt gemacht.
»Wartet bitte einen Moment«, verlangte der Hauptmann der Eskorte höflich und entfernte sich. Seltsamerweise ging er nicht in den Palast, sondern verschwand hinter der südöstlichen Ecke des Gebäudes.
»Vermutlich ist Zirgis im Garten«, erklärte Baltan seinen Begleitern. »Sein Arzt hat ihm frische Luft verordnet und wann immer das Wetter es zulässt, regiert er sein Reich von hier draußen aus – selbst im Winter!«
Yonathan spähte neugierig zu den Grünanlagen hinüber, die sich an die Südseite des Palastes anschlossen: ein kurz geschnittenes Rasenband, dann Rosenhecken, die sich mit niedrigen Blumenrabatten ablösten – im Frühjahr und Sommer sicher prächtig anzuschauen. Auf dem Rasen hatte sich eine Schar Krähen niedergelassen. Ihre heiseren Schreie hallten seltsam verzerrt von den Mauern der weitläufigen Palastanlagen wider. Weiter im Hintergrund waren höhere Hecken und die vom Herbst ausgedünnten Kronen verschiedener Laubbäume zu erkennen, darunter Ahorn,
Eichen und Hainbuchen.
Kurz darauf eilte der Hauptmann zu den Wartenden zurück.
»Der Kaiser ist bereit Euch jetzt zu empfangen«, meldete er. »Wenn Ihr mir bitte folgen wollt.«
Während sie sich in Bewegung setzten, überprüfte Yonathan noch einmal seine Kleidung. Der Gedanke, jeden Moment dem Kaiser des Cedanischen Reiches unter die Augen zu treten, bereitete ihm etwas Sorge. Dabei gab es wenig Anlass dazu, denn Baltan hatte ihn und seine Gefährten in kostbare Gewänder stecken lassen. Jetzt trug Yonathan schwarze Lederstiefel, eine rostrote Leinenhose und ein gleichfarbiges seidengefüttertes Wams mit goldenen Verzierungen über einem weißen Hemd. Ein dunkelblauer Umhang, mit Biberfell umsäumt, vervollständigte seine Ausstattung.
Baltans Kleidung war stets dieselbe. Niemand am Hofe hatte ihn je anders gesehen als mit einem weiten, weißen Gewand, wie es die Bewohner Ganors, der Gartenstadt, bevorzugten, bestehend aus einem einzigen, großen Tuch, das in geheimnisvoller Weise um den Körper geschlungen wurde und von einer edelsteinbesetzten Brosche an der linken Schulter zusammengehalten wurde. Dazu trug er einen Gürtel in den Farben seines Hauses: Blau, Weiß und Violett.
Nachdem der Hauptmann mit seinen Begleitern eine hohe Hecke und einen dahinter liegenden Springbrunnen umrundet hatte, entdeckte Yonathan den »Geliebten Vater der Weisheit«. Der Kaiser thronte auf einem steinernen Sessel am Kopfende eines langen Tisches mit polierter Platte; alle Möbelstücke waren aus Sedin gefertigt. Bei ihm saßen eine korpulente, rotblonde Dame in edlen Seidengewändern und ein älterer Mann mit wirrer Kopfbedeckung. In respektvollem Abstand hatten sich livrierte Diener und uniformierte Leibwachen aufgebaut.
Der Kaiser flüsterte der Dame gerade etwas ins Ohr, worauf sie laut aufjauchzte. Der alte Mann am Tisch hörte wohl nicht gut, denn er reagierte überhaupt nicht. Stattdessen kritzelte er auf einem Stück Pergament herum. Andere Papiere lagerten windsicher unter einer leicht ramponierten Goldkrone.
»Majestät, der edle Baltan und die anderen Gäste«, meldete der Hauptmann, verneigte sich tief und
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