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Nesser, Hakan

Nesser, Hakan

Titel: Nesser, Hakan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Perspektive des Gaertners
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gegenüber, und
plötzlich überfiel mich ein Gefühl von Verlegenheit. Als hinge diese
Intimität, die zwischen uns bereits an jenem bewussten Abend in Aarlach vor
zwei Monaten bestanden hatte, immer noch in der Luft und als ließe sich damit
in der halböffentlichen Offenheit eines Zugabteils nicht umgehen. Natürlich
konnte ich nicht einfach sitzen bleiben und so tun, als hätte ich sie nicht
erkannt, das hätte die Sache nur noch schlimmer gemacht. Ich räusperte mich und
beugte mich zu ihr vor.
    »Zwei
blinde Würmer«, sagte ich.
    Sie
ließ ihr Buch sinken und sah mich an, und die folgenden Sekunden entschieden
alles. So war das, vielleicht war es mir bereits damals klar gewesen. Sie
behielt nämlich ihre ernste Miene bei, reagierte nicht, indem sie in Lachen
oder Verblüffung ausbrach, zeigte überhaupt keinerlei Anzeichen, dass sie
überrascht davon war, mir wieder gegenüberzusitzen.
    Als
wäre es nur eine Frage der Zeit gewesen, wann es wieder so weit sein würde.
    »Hallo«,
sagte sie nur, und zwischen meinen pochenden Schläfen interpretierte mein
Gehirn es als: Ach, da bist du ja endlich!
    Es
gibt eine Grenze dafür, wie lange Menschen einander in die Augen schauen
können. Ist diese Grenze überschritten, verändert sich alles, und man erreicht
diese Schwelle oftmals schneller, als einem bewusst ist. Man kann sich nicht
darauf vorbereiten. Ich spürte ein kurzes Schwindelgefühl, das sich
verflüchtigte, sobald sich der Zug wieder in Bewegung setzte.
    Pieter
Wachsen bemerkte wahrscheinlich, dass etwas Sonderbares zwischen mir und
dieser für ihn unbekannten Dame vor sich ging, denn er hustete ein wenig herausfordernd
und ließ einen Stapel Tageszeitungen auf meine Knie fallen.
    »Pieter
Wachsen«, stellte ich ihn vor. »Und das hier ist Winnie Mason.«
    Sie
schüttelten einander die Hand und begrüßten sich. Es vergingen drei schweigsame
Sekunden. Winnie klappte ihr Buch zu.
    »Ich
wollte gerade in den Speisewagen und eine Tasse Kaffee trinken«, sagte sie
dann. »Willst du mir nicht Gesellschaft leisten?«
    Ihr
»du« kam mit so einer deutlichen Direktheit, dass es meinen Verleger
ausschloss, ohne verletzend zu sein.
    Wir
blieben anderthalb Stunden im Speisewagen. Als Pieter Wachsen mich später am
Abend in seinem Auto vom Bahnhof in Maardam nach Hause fuhr, stellte er nur
fest: »Ich nehme an, das war mehr als nur eine flüchtige Bekanntschaft. Darf
man gratulieren?«
    Ich
erinnere mich nicht mehr, was ich geantwortet habe. Wahrscheinlich irgendetwas
Ausweichendes, aber im Grunde genommen wusste ich, dass mein Leben gerade eine
andere Bahn eingeschlagen hatte und dass ziemlich viel von dem, was mir bis zu
diesem Tag erstrebenswert und wichtig erschienen war, bereits beiseitegetreten
war und bereitwillig Platz gemacht hatte für den oft beschriebenen und sich
selbst verherrlichenden Zustand, den man Verliebtheit nennt. Ganz einfach.
     
    Am
folgenden Wochenende besuchte sie mich in Maardam, und wenn es bis dahin noch
irgendwelche Zweifel gegeben haben sollte, wie wir zueinander standen, so
waren diese von dem Moment an wie weggeblasen. Wir leiteten unsere Beziehung
ein, indem wir zwei Tage und zwei Nächte so gut wie durchgehend im Bett
verbrachten, und in unserem Liebesstreben gab es eine Leichtigkeit und eine
Verspieltheit, wie ich es noch nie zuvor erlebt hatte.
    Winnie
auch nicht, das gab sie unumwunden zu. »Aber«, fügte sie hinzu, »so muss es natürlich sein, wenn ein blinder Wurm den anderen findet.
Wir sind füreinander bestimmt, wir können uns das eingestehen oder es zu
leugnen versuchen. Was meinst du?«
    »Ich
finde, wir sollten es uns eingestehen«, antwortete ich.
    »Das
finde ich auch«, bestätigte Winnie.
    Und
dabei blieb es. Im Laufe des Frühlings verbrachten wir immer mehr Zeit
miteinander, entweder fuhr ich zu ihr, oder sie kam zu mir, aber wir hatten
beide eine gescheiterte Beziehung hinter uns und redeten uns ein, dass wir
keine Eile hatten. Zumindest formulierten wir es so, aber im Monat Mai trafen
wir eine Entscheidung. Ich hatte für drei Wochen ein Stipendium in Barcelona
bekommen, Winnie folgte mir, wir wohnten in einer kleinen Zweizimmerwohnung in
einer Seitenstraße der Rambla, und nach sieben Tagen in dieser erotischsten
Stadt Europas verlobten wir uns. Es war ein regnerischer Tag, am Abend zuvor
hatten wir abgemacht, dass wir uns verloben würden, sollte es an einem Tag
unseres Aufenthalts regnen, und die Antwort ließ nicht lange auf sich warten.
Ein paar Wochen

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