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Nesser, Hakan

Nesser, Hakan

Titel: Nesser, Hakan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Perspektive des Gaertners
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nach unserer Rückkehr zog sie bei mir in der Gerckstraat in
Maardam ein.
    Aber
es gab Abmachungen, Bedingungen, die ich akzeptieren musste, bevor ich mit ihr
unter einem Dach leben konnte. Winnie war in diesem Punkt sehr deutlich. An dem
regnerischen Morgen, an dem wir uns verlobten, nahmen wir unser Frühstück im
Bett ein, und währenddessen erklärte sie mir, dass sie, was ihr früheres Leben
betraf, nicht ganz die Wahrheit gesagt hatte. Und Lügen am Anfang einer
Beziehung waren wie Risse in den Grundfesten eines Hauses; ich erinnere mich,
dass sie sich genau so ausdrückte und dass ich fand, es klang ein wenig
melodramatisch. Aber ich hielt meinen Mund, natürlich, fragte stattdessen, was
es denn für Lügen seien, die sie mir beichten wollte.
    »Es
betrifft meine frühere Beziehung«, sagte sie und fegte ein paar Krümel von der
Bettdecke. »Ich hab dir doch erzählt, dass ich Frank im Mai letzten Jahres
verlassen habe... nun, das stimmt nicht.«
    Sie
machte eine Pause. Ich wartete ab.
    »Aber
es ist keine Lüge im eigentlichen Sinne«, fuhr sie fort. »Es steckt eine große
Trauer dahinter, und ich habe einfach nicht darüber reden können. Nicht einmal
mit dir.«
    »Eine
Trauer?«, fragte ich.
    »Ja.«
    »Sprich
weiter.«
    Sie
fegte weitere Krümel weg, bevor sie fortfuhr. »Ich habe mich nie entschlossen,
Frank zu verlassen«, sagte sie. »So war das nicht, er war es, der mich
verlassen hat. Er und unsere Tochter Judith. Sie war vier Jahre alt. Sie...«
    Sie
brach erneut ab, holte ein paar Mal tief Luft und schien ihre Kräfte zu
sammeln. Ich bin mir nicht sicher, ob mir wirklich klar war, was kommen würde,
aber im Nachhinein habe ich es mir immer eingebildet. Eine große Erschöpfung,
wie ich sie bisher noch nie an ihr gesehen hatte, stand ihr plötzlich ins
Gesicht geschrieben und war ihrer ganzen Haltung zu entnehmen. Sie war so
deutlich wie ein Blutfleck auf einem weißen Laken, und sie legte ihre Hände
rechts und links an ihren Kopf. Es schien, als wollte sie ihn zusammenhalten,
dann schloss sie die Augen und flüsterte mit brüchiger Stimme:
    »Er
ist hinter dem Steuer eingeschlafen. Sie sind auf dem Weg von Cottbus nach
Berlin geradewegs gegen einen Betonpfeiler gefahren. Es sind jetzt
sechshundertfünf Tage vergangen, seit es passiert ist.«
     
    Sie
stand aus dem Bett auf und ging ans Fenster. Blieb dort eine Weile regungslos
stehen, die Arme hingen ihr am Körper herunter, während sie das Treiben unten
auf der Straße zu betrachten schien. Sie stand da wie ein verlorenes Reh,
verletzt und allen Raubtieren und dunklen Kräften der Welt ausgesetzt, und was
mich betraf, so kam es in allererster Linie darauf an, sie zu verteidigen. Sie
war vollkommen schutzlos, und meine wichtigste Aufgabe war es, ihr Schutz zu
bieten. Nicht nur jetzt, sondern für alle Zeiten.
    Doch
ich sagte nichts, alle Worte erschienen mir zu leicht. Ich betrachtete ihre
zerbrechliche Gestalt im Gegenlicht des Fensterrechtecks, während ich dachte,
dass ich sie liebte und dass ich keine Sekunde vor meiner neuen Aufgabe zurückschreckte.
Sie hatte ihren Mann und ihr Kind verloren; bestimmte Wunden hören nie auf zu
bluten, aber man kann dennoch leben damit.
    Auf
jeden Fall musste man sich einreden, dass es möglich war. Nach einer Weile ging
sie ins Badezimmer und schloss sich dort für zwanzig Minuten ein. Als sie
wieder herauskam, bat ich sie, weiterzusprechen, wenn es denn eine Fortsetzung
gab. Erneut blieb sie einen Moment lang am Fenster stehen, dann kroch sie
zurück zu mir ins Bett und zog mich an sich mit einer Art von Hunger, von dem
ich ahnte, dass er unersättlich war.
    Wir
liebten uns brutal, ein Kampf auf Leben und Tod.
     
    Der
Verlust von Judith und Frank hatte tiefe Spuren hinterlassen. Sie erzählte,
dass sie nach der Beerdigung freiwillig in eine psychiatrische Klinik gegangen und
dort zwei Monate lang geblieben war. So lange hatte es gedauert, bis sie
überhaupt eine Möglichkeit sah, so ganz allein weiterleben zu können. Es war in
erster Linie der Verlust der Tochter, den sie nicht akzeptieren konnte. Der
Baum überlebt seine Frucht, doch ein Kind sollte nicht vor seinen Eltern
sterben. Auch wenn sie eigentlich keinen richtigen Glauben hatte, war es ihr
während dieser Zeit vollkommen natürlich erschienen, sich mit Judith auf der
anderen Seite wieder zu vereinen. Vielleicht auch mit ihrem Mann, aber das war
eine untergeordnete Frage.
    Wegen
dieser Gedanken war sie in die Klinik gegangen, erklärte sie. Als

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