Nesser, Hakan
sie
entlassen wurde, war sie mit ihnen fertig geworden, sie wollte sich nicht mehr
das Leben nehmen, aber sie wusste, dass es kein leichter, leuchtender Weg war,
der vor ihr lag. Und sie wusste noch etwas: Sie wollte nie wieder ein Kind
haben.
Das
also war die Bedingung, die sie mir nicht vorenthalten wollte. Auf keinen Fall.
Auch wenn wir heirateten und Mann und Frau nach den Buchstaben des Gesetzes und
der Kirche wurden, so konnte sie sich nicht vorstellen, noch einmal ein Kind
auf die Welt zu bringen. Sie hatte Verständnis dafür, wenn ich das nicht
akzeptieren konnte, aber es blieb ihr keine andere Wahl. Ein Kind zu bekommen und
mit dem Risiko zu leben, dass es eines Tages wieder verschwinden könnte, war
sowohl psychisch als auch physisch unmöglich für sie.
Genau
so formulierte sie es. Es war psychisch und physisch unmöglich.
Ich
musste nicht lange über diese Bedingung nachdenken. Ich war knapp dreißig Jahre
alt, meine Eltern waren tot, mein genetisches Unikat an kommende Geschlechter
weiterzugeben, erschien mir nicht als zwingend nötig. Als klar geworden war,
dass Agnes, meine ehemalige Frau, keine Kinder bekommen konnte, war sie es
gewesen, nicht ich, die unter diesem Bescheid litt. Es war auch ausschlaggebend
für unsere Trennung, aber es war ihre Entscheidung gewesen, nicht meine.
»Du
bist es, die ich liebe, Winnie«, versicherte ich ihr. »Wenn du keine Kinder
haben willst, dann ist es eben so.«
Sie
sah mich lange ernst an.
»Wenn
du in einer Woche immer noch das Gleiche sagst, dann heiraten wir.«
Im
August zogen wir in eine größere Wohnung in der Keymerstraat um. Am 30. Oktober
heirateten wir in der Botschaft in Rom, und auf den Tag genau drei Monate
später, am 30. Januar 2001 - und fast genau ein Jahr, nachdem wir uns in diesem
Zug zwischen Gernten und Maardam getroffen hatten -, erklärte Winnie mir, dass
sie schwanger sei.
9
Ich
esse mit Frederick Grissman auf der Bleecker bei August zu Mittag. Ich habe es
bereits zwei Mal verschoben, ein drittes Mal wäre eine Beleidigung.
Ich
kenne Frederick Grissman nicht und habe keine Lust, ihn kennen zu lernen. Er
ist mein Personaltrainer im Fitnesscenter, in das ich gehe. Er ist Teil des
Startpakets: zwei Stunden Einweisung, wie man die Geräte benutzt, um den
gewünschten Effekt zu erhalten, anschließend kann man ihn jeweils buchen, wenn
man es für notwendig hält. Ich bin nicht der Meinung, dass es notwendig ist,
aber bei den zwei obligatorischen Terminen haben wir uns ein wenig
unterhalten.
Er
ist ein gut gebauter Mann in den Dreißigern, ich glaube, er ist homosexuell,
habe ihn aber nie danach gefragt. Das ist auch nicht wichtig in diesem Teil der
Welt. Aber er weiß, dass ich hetero bin. Außerdem weiß er, dass ich
Schriftsteller bin, und deshalb war er so erpicht darauf, mit mir Mittagessen
zu gehen. Grissman ist nämlich auch Schriftsteller, nur hat er bisher noch
nichts publiziert. Bis auf ein paar Novellen - die eine, die ich gelesen, aber
nicht verstanden habe, in dem angesehenen The New Yorker. Er hat mindestens
einen Roman im Computer, besucht mindestens drei Schreibkurse und hat mindestens
zwei misslungene Selbstmordversuche hinter sich.
Letzteres
ist schon länger her. Bevor er anfing zu schreiben, acht bzw. sechs Jahre ist
das her, der letzte Versuch steht in unmittelbarem Zusammenhang mit 9/11, da
sich sein Partner im World Trade Center befand, als es geschah, und in den Trümmern
begraben wurde. Das hat er nur so nebenbei erwähnt, kurz und verbissen, und
seine Art, sich auszudrücken, führte dazu, dass ich das Geschlecht seines
Partners nicht bestimmen konnte. Ich habe auch nie nachgefragt, es kann sich
also auch um eine Frau gehandelt haben.
Grissman
ist außerdem Schauspieler. Er hatte einige kleinere Rollen in
Off-Off-Broadwaytheatern, und er leitet unsere Lunchkonversation damit ein,
dass er erzählt, dass er zum Vorsprechen für »Tod eines Handlungsreisenden«
gewesen ist. »Es ist wie üblich total danebengegangen«, erklärt er und lacht gekünstelt.
»Ich habe es vermasselt. Sie werden den erstbesten anderen nehmen oder das
Stück ganz streichen, nur damit sie mich nicht sehen müssen.«
»Das
tut mir leid«, sage ich.
»Das
braucht es nicht«, erwidert er. »Übrigens glaube ich, dass der Regisseur mich
nur verabscheut hat, weil ich so durchtrainiert bin. Ich habe überlegt, ob ich
nicht ernsthaft anfangen sollte zu saufen, das braucht man offenbar, um die
richtigen Rollen zu kriegen. Dieses
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