Nesser, Hakan
bei der Sache, und nach anderthalb
Gläsern Wein rückt sie damit heraus.
»Barbara
hat angerufen«, sagt sie. »Ich weiß nicht, warum ich überhaupt rangegangen bin,
ich will gar keinen Kontakt mit ihr haben.«
»Hat
sie deshalb angerufen?«, frage ich. »Weil sie Kontakt zu dir haben möchte?«
Winnie
zuckt mit den Schultern. »Nehme ich an. Sie kommt in ein paar Wochen nach New
York, aber ich habe gesagt, dass wir dann vielleicht verreist sind.«
Ich
nicke. Barbara ist eine Cousine von Winnies Mutter. Sie ist irgendwann in den
Siebzigern in die USA gezogen; wohnt ein paar Tagesreisen weiter westlich,
außerhalb von Billings im Staat Montana. Winnie hat sie nie getroffen, ich
natürlich auch nicht, aber ihre Mutter hat offensichtlich einen gewissen
Kontakt aufrechterhalten. Ich weiß nicht, woher sie weiß, dass wir uns in
Manhattan befinden, vielleicht hat sie es von irgendwelchen anderen Verwandten
erfahren. Auf jeden Fall bekam Winnie bereits wenige Tage, nachdem wir in der Carmine Street eingezogen waren, eine Email von ihr.
»Ich
glaube, sie ist nicht ganz richtig im Kopf«, sagt Winnie. »Meine Mutter hat sie
nie gemocht, sie ist mit einem ökologischen Bienenzüchter verheiratet, und sie
produzieren jede Menge makrobiotisches Gemüse. Außerdem Honig und Gelee Royale
natürlich. Mein Gott, sie muss über
fünfundsiebzig sein, ihr Kerl sieht aus wie Dostojewski!«
»Woher
weißt du das?«
»Ich
habe ein Foto von ihnen gesehen. Darauf stehen sie vor ihrer roten Scheune wie
richtige Siedler, ich glaube, er hat sogar eine Heugabel in der Hand. Wenn es
irgendwelche Menschen gibt, die wir auf keinen Fall treffen sollten, dann sind
das Barbara und Fingal Kripnik.«
»Kripnik?«,
frage ich nach.
»Ja,
genau«, sagt Winnie.
Ich
stelle fest, dass es sie trotz allem ein wenig amüsiert, die beiden auf diese
Art und Weise zu beschreiben, und einen kurzen Moment lang ist es die alte
Winnie, die mir an dem Restauranttisch gegenübersitzt. Sie trägt ein einfaches
schwarzes Kleid, das sie in der ersten Woche hier in New York gekauft hat, und
sie ist sehr, sehr schön. Dicht neben uns sitzt ein Paar um die fünfundzwanzig,
sie sehen frisch verliebt aus, stecken die Köpfe über den Tisch hinweg dicht
zusammen, sie hat ein Buch neben dem Teller liegen, und ab und zu liest sie
ihrem Geliebten wohl ein paar Zeilen vor. Flüstert sie ihm ins Ohr, damit nicht
das ganze Lokal etwas davon mitbekommt; ich versuche herauszufinden, was für
ein Buch es ist, doch es gelingt mir nicht. Ich denke mir, dass das Leben doch
in vielerlei Hinsicht einfacher wäre, wenn das Gedächtnis wie ein Computer
funktionierte, bei dem man die Dinge, die man nicht mehr erträgt und mit denen
man nicht umgehen kann, einfach löscht. Zwei verlorene Kinder beispielsweise.
In meinem Fall nur eins. Delete, und
dann einfach weitermachen.
Aber
in diesem Fall wären Fingal und Barbara Kripnik schon vor langer Zeit gelöscht
worden, und wir hätten nichts gehabt, worüber wir reden können. Winnie
verstummt nach einer Weile, schaut über meine Schulter hinweg aus dem Fenster.
Ich drehe den Kopf - eine ansehnliche Reihe von Menschen und Taxis bevölkern da
draußen die enge Straße, aber ich denke nicht, dass sie sie sieht. Mir ist
schon klar, dass sie an Sarah denkt, irgendetwas in ihren Augen verrät mir
immer, wenn sie von diesen Gedanken erfüllt ist. Die Pupillen verengen sich,
ziehen sich zusammen, als könnten sie es nicht länger ertragen, dass Licht ins
Bewusstsein dringt. Die Bilder, die Winnie sieht, entstehen in ihr selbst, aus
dem Vergangenen, nicht aus unserer jetzigen Umgebung: den Jakobsmuscheln auf
unseren Tellern, dem Wein in unseren Gläsern, den eingerahmten Schwarzweißfotos
an den Wänden, den Menschen um uns herum in dieser Ecke des dicht bewohnten,
brodelnden Stadtteils des Nabels der Welt und meiner eigenen traurigen Gestalt.
Genauso verhält es sich mit ihren anderen Sinnen; auch sie liegen brach in
Erwartung einer Rückkehr.
»Wie
bitte?«, fragt sie nach einer Weile, obwohl ich gar nichts gesagt habe. »Was
hast du gesagt?«
»Ich
habe nur gefragt, ob du heute etwas gemalt hast«, sage ich.
Sie
schüttelt den Kopf. »Ich warte auf dieses Gesicht.«
Sie
sieht mich ein wenig herausfordernd an. »Es tut mir leid«, sage ich. »Ich
versuche es, aber es klappt nicht.«
Wozu
sollte es gut sein, wenn ich mich wirklich erinnern könnte?, denke ich. Was
wäre damit gewonnen? Wenn es uns tatsächlich gelänge, den Mann
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