Nesser, Hakan
Richtung nichts vorzuenthalten. Unter keinen
Umständen. Wenn es sich um diese Art von Verbrechen handelt, warnen Kriminelle
immer davor, die Polizei einzuschalten. Auch heftige, rabiate Drohungen sind
nicht ungewöhnlich.«
»Ich
verstehe«, sagte ich. »Aber wie gesagt, wir haben keinerlei Mitteilungen
dieser Art erhalten.«
»Falls
doch noch eine auftauchen sollte, können Sie sich darauf verlassen, dass wir
sie mit Diskretion behandeln werden«, sagte Tupolsky. »Auf jeden Fall wäre es
das Beste, wenn wir davon erfahren.«
Ich
wiederholte, dass ich in dieser Beziehung ganz ihrer Meinung sei, und dann
sprachen wir nicht mehr darüber.
Es
gab nämlich noch eine andere Alternative.
»Sie
haben ihn gesehen«, stellte Vendler fest. »Aber Sie können keine ausführliche
Personenbeschreibung geben.«
»Ich
erinnere mich daran, wie er gekleidet war«, bemerkte ich. »Und das Auto war
grün, ziemlich neu, aber ich kümmere mich nicht um Automarken, und außerdem
sehen sie heutzutage alle gleich aus.«
»Ein
Mann, beginnenden mittleren Alters«, las Tupolsky von einem Papier ab. »Grüner,
dünner Mantel, dunkle Hose. Mittelgroß, wahrscheinlich braunes, kurz
geschnittenes Haar.«
»Kann
auch schwarz gewesen sein.«
»Das
haben wir notiert. Kein Gesicht?«
»Ich
kann mich einfach nicht mehr erinnern. Außerdem war ich fünfundzwanzig Meter
entfernt.«
»Wollen
wir uns noch weitere Fotos ansehen?«, schlug Vendler vor.
Ich
zuckte mit den Schultern. »Warum nicht?«
Winnie
wurde nie von irgendeinem Polizeibeamten verhört.
Ihr
Zustand ließ es nicht zu, und es gab auch keinen Grund dafür. Doktor Vargas erklärte, dass Winnie langsam versuchen musste, sich dem
Geschehenen anzunähern und es zu akzeptieren - ganz gleich, welches Schicksal
Sarah ereilt hatte -, dass es jedoch vor dem Hintergrund ihres momentanen
psychischen Zustandes dafür noch zu früh sei. Viel zu früh. Wir waren bereits
an dem Tag, als Sarah verschwand, mit dem Doktor in Kontakt gekommen -
anderthalb Tage, bevor ich Winnie in der Badewanne fand. Er war auf einen
späten, kurzen Hausbesuch vorbeigekommen und hatte zwei medizinische Präparate
verschrieben. Eines, um schlafen zu können, eines, um die Nerven zu beruhigen,
wie er sich auf seine ein wenig altertümliche Art und Weise ausdrückte.
Soweit
ich es verstanden habe, akzeptierte die Polizei Doktor Vargas' Anweisungen ohne große Einwände, aber Inspektorin Vendler
bat mich ausdrücklich, Winnie einige Fragen zu stellen.
»Sie
stehen ihr am nächsten. Wenn jemand zu ihr vordringen kann, dann sind Sie es.
Es ist natürlich nicht anzunehmen, dass sie Informationen zurückhält, die uns
helfen könnten, aber man kann ja nie wissen.«
»Man
kann nie wissen«, wiederholte Tupolsky.
»Selbstverständlich«,
erwiderte ich. »Ich werde mit ihr reden, sobald die Zeit reif ist.«
Es
ist schwer zu sagen, ob die Zeit jemals reif sein wird.
Winnie
blieb bis Anfang November in Rozenhejm, fast ein halbes Jahr, und ich besuchte
sie jeden Tag. Doktor Vargas wollte
mich ab und zu überreden, mal einen Tag oder mehrere auszulassen, aber auf dem
Ohr war ich taub. Es gehörte zu meiner Überlebensstrategie, mich ins Auto zu
setzen und nach Rozenhejm zu fahren; das war die einzige bedeutungsvolle
Handlung, die ich im Laufe dieses Halbjahrs ausführte, das war der Nagel, an
dem meine Vernunft und mein Leben hingen. Ich versuchte zu schreiben, brachte
nicht eine Zeile zustande, ich versuchte zu lesen, Fernsehen zu schauen, ins
Kino oder Theater zu gehen, nichts vermochte auch nur ein Fünkchen Interesse
in mir zu wecken. Ich verließ zwei klassische Konzerte, nachdem ich jeweils
eine halbe Stunde dort gesessen und versucht hatte, zuzuhören. Ich nahm fast
zehn Kilo Gewicht ab. Das Einzige, worauf ich mich zu konzentrieren vermochte,
das waren die täglichen Treffen mit Winnie.
Während
dieser schweren Zeit machte ich auch eine Therapie, bei einer Frau namens
Hertha Baussmann. Sie empfing mich zweimal in der Woche, dienstags und
freitags, in einem düsteren Raum mit vorgezogenen Gardinen in der Ruyderstraat
hinter dem Bahnhof in Saaren. Mir ging es dadurch nicht besser, aber auch nicht
schlechter, und jedes Mal schwand wieder eine sinnlose Stunde aus meinem Leben
dahin.
Winnie
und ich sprachen nur wenig miteinander, ganz gleich, ob wir nun durch die
schöne Natur um Rozenhejm herum spazieren gingen oder ob wir - vereinzelte
Male, wenn das Wetter es nicht zuließ - uns drinnen in der Klinik
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