Nesser, Hakan
aufhielten.
Ich fragte jedes Mal, wie es ihr gehe und ob sie letzte Nacht gut geschlafen
habe, sie antwortete nie darauf. Selbst ergriff sie nur selten die Initiative
zu einem Gespräch, es war meine Aufgabe, einen Riss in ihrem Schweigen zu
finden, und ab und zu gelang es mir tatsächlich. Meistens ging es dann um
Themen und Ereignisse, weit von unserem eigenen Leben und unserer eigenen
Wirklichkeit entfernt: Indianerkulturen, Neo Rauchs Bildersprache, die
Möglichkeit, zu Fuß nach Santiago de Compostela zu pilgern.
Nur
selten erwähnten wir Sarahs Verschwinden. Anfangs erschien es wie ein Tabu,
zumindest, wenn ich derjenige war, der das Thema aufgriff. Meistens bedeutete
das, dass sich eine Tür schloss; Winnie konnte mitten im Schritt stehen
bleiben, sich umdrehen und, ohne auch nur die geringste Notiz von meiner
Anwesenheit zu nehmen, zurück in die Klinik gehen.
Vereinzelte
Male konnte Winnie aber auch Sarah selbst erwähnen. Der Grund war immer
derselbe: auf irgendeine Weise hatte sie erfahren, dass unsere Tochter noch am
Leben war, aber woher sie diese Kenntnis hatte, erschien meistens etwas
nebulös. Normalerweise hatte sie eine Art Botschaft im Traum erhalten.
Ich
erinnere mich jedoch an eine Ausnahme. Es war unten am Fluss. Wir waren in Höhe
der alten Zugbrücke stehen geblieben; es war ein schöner Herbsttag mit
frischer, klarer Luft und kräftigen Farben. Ich bemerkte Letzteres und sagte:
»Mit
genau solchen Farben hat Sarah immer gern gemalt.«
Winnie
schaute sich um. »Nicht ganz«, sagte sie. »Das Rot hat sie vermieden.«
»Ist
das bei dir nicht auch so?«, fragte ich. »Auf deinen Bildern ist doch nur
selten Rot zu finden. Abgesehen von dem, was du in Aarlach an der Wand hängen
hattest, als wir uns kennen gelernt haben.«
»Stimmt«,
nickte Winnie. »Da haben wir einen gemeinsamen Zug, Sarah und ich. Wir haben
beide ein wenig Angst vor dem Rot.«
Dann
lachte sie, nur eine kurze Sekunde lang, und ihre Miene schien so etwas wie
Überraschung zu zeigen. Wodurch mir klar wurde, dass etwas in ihr geschehen
war. Dass es vielleicht einen Weg zurück gab.
Einen
Monat später verließ Winnie Rozenhejm. Während der Zeit ihres Aufenthaltes dort
hatte ich unser Haus in der Wallnerstraat verkauft und eine kleine Wohnung in
Maardam angemietet. Weder Winnie noch ich konnten uns vorstellen, nach dem,
was passiert war, weiterhin in Saaren wohnen zu bleiben, gleichzeitig war uns
klar, dass auch Kellners Steeg am Grote Markt in Maardam nur eine temporäre
Lösung darstellte.
Es
dauerte dann auch nicht mehr als zehn Monate, bis wir alle unsere Möbel in
einem Lager unterstellten und uns ins Flugzeug nach New York setzten. Mit vier
Koffern und zwei leeren Herzen.
Zu
dem Zeitpunkt hatte die Polizei, was das Verschwinden unserer Tochter Sarah
betraf, noch immer keine Spur, arbeitete laut eigenen Angaben aber weiterhin an
dem Fall.
13
Am
Tag nach Winnies Besuch im Pastis eröffnet Mr. Edwards unvermutet das Gespräch.
Kurz vor halb zwölf kommt er an meinen Tisch und setzt sich mir gegenüber.
»Mr.
Steinbeck«, sagt er. »Bitte entschuldigen Sie, dass ich mich Ihnen so
aufdränge, aber ich wollte fragen, ob ich Sie nicht zum Mittagessen einladen
dürfte?«
Ich
überlege zwei Sekunden lang, bevor ich einwillige.
»Danke,
gern. Nun, es sieht ja so aus, als wenn wir Arbeitskollegen sind.«
Er
lacht zustimmend. »Zumindest sitzen wir im selben Boot. Das Cafe Cluny in der
Vierten Straße ist eigentlich immer ganz gut, und es ist noch ein kleiner
Spaziergang bis dorthin. Das ist für den Blutkreislauf nötig, zumindest in
meinem Alter.«
Ich
akzeptiere auch diesen Vorschlag, und wir gehen gleich los. Mr. Edwards
erklärt, dass er hungrig ist und dass es immer am besten ist, wenn man vor halb
eins an Ort und Stelle ist.
Während unseres
Spaziergangs reden wir in erster Linie über das Wetter und das Stadtviertel.
Mr. Edwards ist in Lafayette in
Louisiana geboren, hat aber sein gesamtes Erwachsenenleben in New York
verbracht. Die letzten zwanzig Jahre in der Greenwich Avenue, Ecke Jane Street. Er hat viele andere Städte und
Viertel in der Welt gesehen, wie er behauptet, aber es gibt nichts, was sich
mit West Village messen
kann.
Ich
erkläre, dass ich zwar erst seit ein paar Monaten hier wohne, aber bisher
nichts entdeckt habe, was seine Behauptung in Frage stellen könnte.
Wir
bekommen einen Fenstertisch zum Abingdon Square
hinaus, bestellen jeweils ein Stück Fleisch und einen Salat, und
Weitere Kostenlose Bücher