Nesser, Hakan
noch einmal. Wir sitzen draußen im James Walker Park, jeder mit
seinem Kaffeebecher. Die Bibliothek im Rücken, vor uns rote und blaue Kinder,
die auf dem Spielfeld zur Hudson Street Baseball trainieren. Ich versuche
ernsthaft, über seinen Vorschlag nachzudenken, abzuwägen, was dafür spricht
und was dagegen, habe aber Probleme, eine Entscheidung zu treffen. Es ist ganz
offensichtlich: Ich bin an eine Grenze gelangt. Sie überschreiten oder nicht,
das ist die Frage. Mr. Edwards lehnt sich zurück und zündet eine seiner dünnen,
hellbraunen Zigarren an.
»Gestern
ist auch etwas passiert, wenn ich es richtig verstanden habe?«
»Ja«,
nicke ich seufzend. »Gestern ist auch etwas passiert. Jedenfalls...«
»Ja?«
»Jedenfalls
will sie mir nicht sagen, wo sie gewesen ist.«
»Lange
Zeit?«
Ȇber
sieben Stunden. Aber sie war auch eine Zeitlang schwimmen. Wahrscheinlich.«
»Keine
Andeutungen hinsichtlich Ihrer Tochter?«
»Keine
Andeutungen in welcher Hinsicht auch immer.«
»Ich
verstehe.«
Ich
frage mich, was er wohl versteht. Ich selbst habe das Gefühl, dass ich immer
weniger verstehe, und wahrscheinlich ist es die Verärgerung über dieses Gefühl,
was den Ausschlag gibt.
»Wie?«,
frage ich. »Wie soll es vor sich gehen?«
»Oh«,
sagt er und stößt eine Rauchwolke aus. »Eine reine Routineangelegenheit. Ich
glaube, ich bin in dieser Stadt schon mehr als tausend Menschen gefolgt. Aus
unterschiedlichen Gründen.«
»Und
wenn Sie sie aus den Augen verlieren?« Ich denke an seine Hüfte und sein Alter.
Er
räuspert sich und setzt sich ein wenig gerader hin. »Normalerweise verliere
ich mein Objekt nicht aus den Augen, Mr. Steinbeck. Und wenn es doch passieren
sollte, dann gibt es Schlimmeres. Wie gesagt. Dann kann man es bei einer
späteren Gelegenheit erneut versuchen.«
Ich
trinke einen Schluck Kaffee und denke nach.
»Wann?«,
frage ich.
»Wann
Sie wollen«, antwortet er. »Ich kann mich morgen früh vor Ihrer Haustür
postieren, dann werden wir sehen, wohin sie geht. Liegt nicht das Grey
Dog Cafe gegenüber auf der Carmine Street?«
Das
bestätige ich.
«Ausgezeichnet«,
sagt Mr. Edwards zufrieden. »Da kann ich sitzen und einen Kaffee trinken und
darauf warten, bis sie Ihre Wohnung verlässt. Nichts einfacher als das.«
»Es
ist nicht gesagt, dass sie morgen rausgeht. Vielleicht bleibt sie auch zu Hause
und malt.«
»Wir
werden sehen. Aber Sie sind derjenige, der normalerweise zuerst das Haus
verlässt?«
»Ja.
Jedenfalls meistens.«
»Gut«,
fasst er zusammen. »Was meinen Sie? Denken Sie nicht, dass es einen Versuch
wert ist?« Ich zögere.
»Sie
wird es niemals erfahren«, fügt er hinzu. Ich zögere immer noch. Dann nicke
ich.
Diese
Gedichtzeilen in Die Perspektive des Gärtners, die
Winnie Mason und mich zusammengeführt haben, verschwanden bald aus unserem
Leben. Nachdem wir an jenem ersten Abend in Aarlach diesen sonderbaren Zufall
diskutiert hatten - dass wir beide, jeder für sich, diese Zeilen offenbar mehr
oder weniger zum selben Zeitpunkt komponiert hatten -, sprachen wir fast nie
mehr darüber.
Sechs
Fuß unter der Erde,
in
der Morgenröte,
zwei
blinde Würmer, die verweilen.
Natürlich
tauchten sie ab und zu in meinem Kopf auf, ich nehme an, bei Winnie auch, aber
aus welchem Grund auch immer, wir sprachen nie wieder darüber. Wir erwähnten
diesen merkwürdigen Tatbestand auch nie jemand anderem gegenüber, vielleicht
empfanden wir beide ja das Gedicht als eine Art privates, geheimes Band, etwas,
das uns zusammenhielt, aber mit dem zu prahlen nicht nötig, ja nicht einmal
passend gewesen wäre. Ja, ich glaube wirklich, dass es sich so verhielt.
Einmal
- ein einziges Mal - wurde ich jedoch daran erinnert und war ein wenig
aufgewühlt. In einem Artikel der angesehenen Literaturzeitschrift P.A.C. wies
nämlich ein Kritiker namens Simon Frazer darauf hin, dass die Zeilen über die
Würmer in meinem Roman schon selbst eine Übersetzung - oder zumindest
Interpretation - eines Gedichts des französischen Lyrikers Bernard Grimaux aus
seiner Sammlung Les Lettres toxiques von
1929 waren. In dem Artikel wurde das Gedicht in extenso wiedergegeben, und
trotz meines ziemlich schlechten Französisch konnte ich feststellen, dass
Frazer zweifellos Recht hatte. Meine - und Winnies - Zeilen stimmten ganz
unzweifelhaft mit den letzten sieben Zeilen bei Grimaux überein.
Wobei
ich aber sofort feststellen konnte, dass ich noch nie zuvor auf Grimaux'
titelloses Gedicht
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