Nesser, Hakan
Gritti und Harrys -, wir
schafften es, alles im Laufe des Nachmittags zu erledigen, und das Einzige, was
möglicherweise als ein wenig bedrohlich empfunden werden konnte, das war das
Wetter. Es regnete fast die ganze Zeit, und der Wind, der durch die Gassen und
über den Markusplatz fegte, war nicht besonders gnädig mit uns.
Aber
gegen sechs Uhr waren wir zurück im Hotel, wir nahmen eine heiße Dusche, zogen
uns trockene Kleidung an und begaben uns dann in ein kleines Restaurant, einen
Steinwurf von der Ponte Vecchio entfernt. Es war ein ziemlich kleines Lokal
mit nicht besonders vielen Gästen, aber das Essen war gut, und wir tranken
einen ausgezeichneten Piemonteser Wein. Gerade als wir unser Dessert bekamen,
trat ein weiteres Paar durch die Tür herein. Ein Mann und eine Frau in unserem
Alter, wie es schien; beide waren elegant gekleidet, als feierten sie etwas.
Ich denke, dass sie ein wenig betrunken waren, aber darin kann ich mich auch
irren.
Sie
wurden an einen Tisch weiter hinten im Lokal verwiesen, ein Stück von uns
entfernt, und als die Frau, nachdem sie bestellt hatten, sich erhob, um die
Toilette aufzusuchen, ging sie direkt an Winnie und mir vorbei. Plötzlich blieb
sie stehen, schlug sich die Hand vor den Mund und schien einen Moment lang zu
zögern, bevor sie ausrief:
»Ursula!«
Winnie
hatte gerade die Hand ausgestreckt, um ihr Glas zu nehmen, wir hatten beide
einen Muskatwein zu unserem Pannacotta bestellt, und ich hatte einen stummen
Toast angedeutet, aber erschrocken von dem Ausruf der Frau kippte Winnie ihr
Glas um.
»Oh,
Entschuldigung! Tut mir leid, aber du bist doch Ursula?«
Die
Frau sah gleichzeitig peinlich berührt und unsicher aus, doch als Winnie sich
umdrehte und sie direkt ansah, zeigte sie ein breites Lächeln.
»Mein
Gott, das ist so lange her...«
Winnie
schüttelte verwirrt den Kopf. »Es tut mir leid, aber...«
»Dann
sind Sie nicht...? Entschuldigung, aber ich war mir so sicher, dass...«
»Das
macht nichts«, sagte Winnie. »Aber ich heiße leider nicht Ursula.«
Die
Frau hielt sich wieder die Hand vor den Mund und sah ganz unglücklich aus.
»Ich
hatte den Eindruck... und der Wein... ich wollte auf keinen Fall...«
Eine
ganze Kette derartiger abgebrochener Sätze platzte aus ihr heraus, dann
entschuldigte sie sich noch einmal und eilte zur Toilette.
Ihr
Mann hatte den kleinen Zwischenfall offenbar gar nicht bemerkt, und als die
Frau auf dem Weg zurück zu ihrem Tisch bei uns vorbeiging, lächelte sie nur
entschuldigend, ohne das Geschehene zu kommentieren.
Aus
irgendeinem Grund hatte Winnie danach aber schlechte Laune, und ein neues Glas
Muskatwein wollte sie nicht haben. Stattdessen bestand sie darauf, dass wir
umgehend die Rechnung beglichen und zurück ins Hotel gingen.
Ich
tat ihr natürlich den Gefallen, mir erschien das alles aber als Bagatelle, ich
konnte ihre heftige Reaktion nicht so recht verstehen. Zwar konnte ich sehen,
dass der Vorfall sie aufgewühlt hatte, aber erst als wir in unserem
Hotelzimmer ins Bett gegangen waren, erklärte Winnie mir den Grund dafür.
»Ich
hatte eine Klassenkameradin, die hieß Ursula. Alle fanden, wir sähen uns
ähnlich wie Zwillinge, aber ich war nicht so begeistert von ihr. Es beruhte
übrigens auf Gegenseitigkeit, es war uns immer peinlich, wenn jemand uns
verglich. Wir sind nie Freundinnen geworden.«
»Und
du glaubst, dass sie es war, an die die Frau gedacht hat? Deine alte
Klassenkameradin?«
»Ich
weiß nicht«, erwiderte Winnie, ohne mich anzusehen. »Ich weiß wirklich nicht,
Ursula starb, bevor sie zwanzig wurde. Sie wurde ermordet.«
Wir
sprachen nicht mehr über den Zwischenfall im Restaurant in Venedig. Hinterher
habe ich natürlich ab und zu daran gedacht - es erschien so merkwürdig und
außergewöhnlich, auf irgendeine Art und Weise aus jedem Zusammenhang gerissen
-, aber da es sich offenbar um ein Ereignis handelte, das Winnie gerne auf sich
beruhen lassen wollte, hatte ich nie die Gelegenheit, es noch einmal mit ihr
zu besprechen.
Ich
weiß auch nicht, warum ich jetzt an meinem Tisch sitze und darüber schreibe,
aber ich habe mich daran gewöhnt, dass ich all die subtilen Mechanismen, die
eine Erzählung in eine bestimmte Richtung lenken, nicht immer verstehen muss.
Oder
ein Leben.
26
An
diesem Freitag ist Mr. Edwards nicht an seinem Platz. Ich rechne nach und komme
zu dem Schluss, dass es das dritte Mal ist, seit ich die Bibliothek in der
Leroy Street aufsuche. Das erste Mal war,
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