Nesser, Hakan
Farben, der Herbst ist hier oben schon um einen Tick
weiter als in New York City, und ich denke, dass der Unterschied zwischen der
inneren und der äußeren Wirklichkeit kaum größer sein kann als hier.
Bei
Kingston, nach gut zwei Stunden Fahrt, biege ich auf den Highway 28 ab, der die
Catskills nach Westen hin durchschneidet, und an einem kleinen Ort namens
Boiceville halte ich zum Tanken an. Bleibe dann noch eine Weile auf einer Bank
in der Sonne mit Kaffee und einem Muffin sitzen, während ich die Karte studiere
und mich umschaue. Die Sonne braucht es wirklich, denn hier oben in den Bergen
ist die Luft deutlich kühler. Die gesamten Catskills sind ein großes
Naturreservat, hier gibt es Wanderwege, Campingplätze und Wildwasserfahrten,
Skiloipen im Winter und Blockhäuser zu mieten. Boiceville selbst sieht aus wie
ein typisches Touristenörtchen für Freizeitsportler, ein kleines Dorf, das
sich entlang der Straße und des Flusses ausdehnt, ein paar Geschäfte, ein paar
Restaurants, ein paar Cafes. Ein Schild gleich neben der Bank, auf der ich
sitze, informiert darüber, dass ein Stück weiter den Wald hinein ein buddhistisches
Zentrum liegt. Auf der Bank neben mir sitzen zwei junge Männer mit Rucksäcken,
karierten Hemden und jeder seinem Bud Light.
Laut Karte habe ich noch mindestens eine Stunde Autofahrt vor mir, bevor ich
das Fleckchen Meredith erreiche,
vermutlich sogar anderthalb. Ich frage mich, wie wohl die Wirklichkeit
aussieht, wenn ich dort oben tatsächlich meine Frau und meine Tochter finde.
Es
funktioniert nicht. Ich bekomme es nicht zusammen, kann mir nicht vorstellen,
dass es so eine Art von Wirklichkeit gibt. Seit ich mit Geraldine Grimaux
gesprochen habe, habe ich die gleichen absurden Fragen so ziemlich jede wache
Minute gewälzt. Diese unbekannten Menschen, die mit ihren Informationen über
Sarah gekommen sind. Obdachlose, die mit Vögeln reden können, Mexikanerinnen
als Medium und Gott weiß was noch. Das alles ist so verdammt bizarr, und wenn
es nicht um Leben und Tod ginge, würde ich es natürlich als Sammelsurium von
Einbildungen und esoterischem Quatsch abtun. Ich glaube nicht an so etwas,
bestimmte Dinge können eintreffen, andere treffen möglicherweise unter höchst
speziellen Umständen ein, wieder andere liegen außerhalb jeder
Wahrscheinlichkeit. Das Muster ist unbegreiflich.
Es
nützt natürlich nicht viel, im Sonnenschein auf einer Bank in Boiceville in den
Catskills zu sitzen und derartigen nüchternen Betrachtungen nachzuhängen.
Überhaupt nichts; aber da ich es nicht ertrage, gar nichts zu tun, ist es
besser als nichts; eine einfache, bewährte Verhaltensregel für zweifelnde Agnostiker.
Da dieses unerträgliche Leben sowieso weiterzugehen scheint, ist es das Beste,
auf den Zug aufzuspringen. Plötzlich wird mir klar, wie einsam ich bin, aber
das sind natürlich auch die Umstände, wie ich sie mir zurechtgeschustert habe.
Und das äußerst bewusst, es gibt nichts, womit das zu entschuldigen wäre, aber
wenn Winnie nicht mehr im Bild ist, dann erscheint alles plötzlich äußerst hohl.
Es fühlt sich natürlich bereits seit dem 5. Mai 2006 leer und hohl an, aber
Winnie hat - selbst in ihren schwächsten Augenblicken, und vielleicht gerade
dann - eine Art Schutz gebildet. In der von Menschen wimmelnden Stadt New York,
in der ich nun einmal wohne, kenne ich genau genommen drei Personen: Mr.
Edwards, Peter Brockenmeyer und Frederick Grissman, und alle drei sind äußerst
entfernte Bekanntschaften. Ich grüße fünf oder sechs Menschen in unserem
Viertel auf der Straße, aber alles in allem habe ich niemanden, der mir näher
steht als diese beiden biertrinkenden Rucksäcke auf der Bank neben mir.
Daheim
in Europa ist es ein wenig besser, aber nicht viel.
die
verwundert den Stimmen von oben lauschen
Nein,
auch das bekommt weder Hand noch Fuß. Bleibt nur ein Spiel mit Möglichkeiten.
Aber was war es eigentlich, was in diesem verfluchten Leben so wichtig war? Wo
brennen meine Feuer? Wo brannten sie?
Auch
diese Überlegungen erscheinen mir nicht besonders erbaulich; ich trinke meinen
Kaffee aus und esse den Rest meines Muffins und
klettere wieder ins Auto. Fahre weiter zwischen den grüngelben Bergen
hindurch.
Der
Tramper steht unter einer Eiche am Ortsrand von Andes, und ich weiß nicht, warum ich ihn aufsammle. Normalerweise
nehme ich keine Tramper mit, zumindest keine bärtigen Männer mittleren Alters,
die wie überwinterte Hippies aussehen.
Er
wirft seinen Rucksack auf
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