Nesser, Hakan
geben? Sie kann das alles doch
nicht allein aus eigenen Kräften veranstaltet haben? Aber je mehr ich darüber
nachdenke, je genauer ich diese eigenartigen Botschaf ten von eigenartigen Personen zu deuten versuche, umso flüchtiger
erscheinen sie mir.
Und
trotz allem, welche anderen Wege stehen mir offen? Was bleibt noch übrig bei
all den Zweifeln, abgesehen von dem trostlosen Warten und dem sterilen
Nullpunkt?
Und
die Bars und der Wahnsinn, wie gesagt. Die Wahrheit ist ein räudiger
Ziegenbock, die Lüge eine schöne Frau, bitte schön, entscheidet euch - wer hat
das gesagt?
Ich
werfe einen Blick auf Mr. Edwards' leeren Tisch und wünschte, er wäre an seinem
Platz. Ich würde gern den Stand der Dinge mit ihm diskutieren - eigentlich mit
wem auch immer, aber der Gedanke, jemand anderen in diese verdammten
Abstrusitäten und Merkwürdigkeiten hineinzuziehen, reizt mich nicht besonders.
Natürlich sind es auch Gefühle der Rücksichtnahme, die mich beeinflussen, ich
möchte nicht als ein lächerlicher - oder im besten Fall tragischer - Idiot
erscheinen.
Ich
nehme ein spätes Mittagessen im Le Tartine in der Vierten Straße ein, und dann
warte ich den ganzen Nachmittag darauf, dass Mr. Edwards auftaucht. Erst als
die Uhr sieben zeigt und es nur noch eine Stunde bis zur Schließung ist, gebe
ich auf und muss einsehen,
dass er an diesem Tag wohl nicht in der Bibliothek erscheint. Aus Gründen, die
ich mir weder ausmalen kann noch möchte. Aber hoffentlich nur wegen eines
Arztbesuchs.
In
diesen Stunden bringe ich eigentlich gar nichts zustande. Versuche ein paar
Anfänge zu schreiben, doch es klappt nicht. Ich reiße die Seiten heraus, werfe
sie in den Papierkorb und widme mich dann einzig und allein dem Studium der
Karte. Ich spüre eine Art tickende Unruhe im Körper, die zunimmt, je dichter
die Dämmerung draußen vor dem Fenster wird, und als ich schließlich ins
Internet gehe und nach einer Autovermietung suche, ausgehend von unserer
Postleitzahl in der Carmine, empfinde
ich das wie ein verwässertes Spiel, nichts, was ich ernsthaft zu Ende bringen
möchte.
Schließlich
miete ich doch einen Chrysler Cruiser bei
Enterprise in der Thompson Street und bezahle mit meiner Kreditkarte. Er
kostet nur 69 Dollar für vierundzwanzig Stunden, plus diverse Versicherungen
und Benzin, und ich kann ihn jederzeit ab acht Uhr morgen früh abholen. Ich
denke, das ist auch eine Möglichkeit, den Tag herumzubringen, und abgesehen von
dem kurzen Trip zu den Brockenmeyer/Bowles in Brooklyn vor Kurzem bin ich seit
mehr als zwei Monaten nicht aus Manhattan herausgekommen. Es ist also höchste
Zeit.
Während
ich in der Bibliothek war, habe ich meine Emails nicht kontrolliert, tue es
jedoch, als ich nach Hause komme. Es gibt zwei neue Mitteilungen im Eingang,
die eine ein Routinegruß von meinem Verleger, die andere eine kurze
Information von der Sekretärin von Doktor Vargas, die sich an eine größere Gruppe von Empfängern richtet -
sie bedauert, dass der Doktor seine Korrespondenz nicht in üblichem Maße hat
pflegen können, da er einen Schlaganfall erlitten hat. Sein Zustand ist nicht
lebensbedrohlich, aber er wird auf unbestimmte Zeit krankheitsbedingt
ausfallen. Es gibt außerdem einen Verweis auf zwei andere Ärzte, mit
Telefonnummer und Mailadresse.
Nicht
lebensbedrohlich?, denke ich und versuche zu verstehen, was das bedeutet. Wenn
das das Positivste ist, was man über die Situation sagen kann, dann muss es ernst sein. Er ist zumindest noch
nicht tot, so hätte sie es vielleicht auch formulieren
können. Mir wird jedenfalls klar, dass ich nicht erwarten kann, mit Doktor Vargas über den Zustand meiner Ehefrau zu diskutieren, er hat genug
mit sich selbst zu tun.
Gleichzeitig
merke ich, dass ich eigentlich nicht verwundert über diese neue, aber periphere
Zutat auf der Handlungsebene bin. Absolut nicht verwundert. Ich habe das
Gefühl, als wäre ich lange Zeit in gut präparierten Spuren gewandert und wanderte
immer noch in ihnen, und dass das Muster, das meine Wanderung lenkt, mir
deutlich vor Augen treten wird, wenn ich mich irgendwann in ferner Zukunft
hinsetzen und zurückschauen kann. Ja, ungefähr so verhält es sich. Aber ich
kann nicht ausmachen, ob dieses vage Versprechen etwas ist, auf das ich mich
freuen kann, oder ob ich es eines Tages verfluchen werde.
27
Vielleicht
war meine schriftstellerische Tätigkeit am 5. Mai 2006 beendet. Ich weiß nicht,
was mit dem Text geschehen wird, den ich
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