Nesser, Hakan
die Rückbank und lässt sich mit einem vernehmlichen
Seufzer neben mir auf den Beifahrersitz fallen.
»Vielen
Dank«, sagt er. »Es ist doch erfreulich, dass es immer noch den einen oder
anderen anständigen Menschen in diesem Land gibt. Und ich will nur bis Delhi,
du bist mich also in einer halben Stunde wieder los.«
Er
spricht Delhi wie »Dell-haj!« aus. Ich frage ihn, ob der Ort tatsächlich so heißt,
und er erklärt mir, dass er dort vier Jahre lang auf dem College war, und auch
wenn er viel vergessen hat, zumindest hat er gelernt, den Namen der Stadt
auszusprechen.
Anschließend
stellen wir uns gegenseitig vor; er heißt John B. Stratton, ist momentan ein
Vagabund und dabei, seine Wurzeln zu suchen. Die letzten fünf Jahre seines
Lebens hat er in einem Gefängnis in Texas verbracht, und als er vor gut drei
Wochen raus kam, war ihm klar, dass er genau das zu tun hatte. Seine Wurzeln zu
suchen und zu begreifen, was schiefgelaufen ist. Und warum.
Ich
sage, dass ich sehr gut verstehe, wovon er redet, und frage ihn, warum er im
Gefängnis saß. Er zuckt mit den Schultern und erklärt, dass es sich um eine
Reihe unglücklicher Zufälle handelte, das Ganze aber eigentlich nur eine Frage
der Zeit war. Er hat kein größeres Verbrechen begangen, aber es war der zweite
Rückfall, und die Anklagepunkte beliefen sich auf gut zwölf Stück. Mehr will er
nicht sagen, ursprünglich stammt er aus Raleigh in
North Carolina, einem der gottverlassensten Orte auf dieser Erde, wie er mir
anvertraut, aber erst als er aufs College in Delhi kam, ging es ernsthaft
schief. Danach hat er in Oregon, Kalifornien, Arizona, Texas und drei oder vier
anderen Staaten gelebt. Er hat zwei Frauen und vier Kinder zurückgelassen;
wenn er Delhi hinter sich gebracht hat, dann wird er sich auch all diese
Menschen vornehmen.
»A man's gotta do what a man's gotta do?«, schlage
ich vor.
»Genau«,
stellt John B. Stratton fest, und dann fragt er, was so jemand wie ich in
diesem Teil dieses deutlich überschätzten Landes zu suchen hat.
»Ich
suche nach einer Person«, sage ich. »Oder eigentlich nach zwei Personen«, füge
ich hinzu.
John
B. Stratton akzeptiert meine Erklärung, als wäre es die natürlichste Sache auf
der Welt. Einige suchen nach ihren Wurzeln, andere suchen nach etwas anderem.
Die Welt ist voller Sucher. Er greift auf den Rücksitz und holt zwei Dosen
Coors Light aus dem Rucksack, reicht mir, ohne zu fragen, eine. Wir öffnen sie
und trinken jeweils einen Schluck.
»Und
wen?«, fragt er dann. »Nach wem suchst du?«
»Nach
meiner Frau und meiner Tochter«, sage ich.
»Scheiße«,
sagt John B. Stratton. »Dann ist sie also auf und davon?«
»In
gewisser Weise schon«, bestätige ich.
»Aha«,
sagt er. »Und du glaubst, dass sie sich hier in der Gegend aufhalten?«
»Ich
weiß es nicht«, sage ich. »Aber es gibt Zeichen, die dafür sprechen.«
»Tatsächlich?«,
sagt er und trinkt einen Schluck Bier.
»Meredith«,
sage ich. »Kennst du das?«
»Meredith?
Was zum Teufel tun sie in Meredith?«
Ich
sage, dass ich keine Ahnung habe, aber einen Tipp bekommen habe, dass sie sich
vielleicht dort befinden könnten.
»Ich
weiß, wo das liegt«, erklärt John B. Stratton. »An der Straße zwischen Delhi
und Oneonta, aber man kann es kaum einen Ort nennen. Es leben dort vor allem
Kühe und Schweine. Bist du sicher, dass es dort ist?«
Ich
erwidere, dass ich mir absolut nicht sicher bin, aber auf jeden Fall einen
Versuch wagen will.
»Habe
ich richtig verstanden: Du wohnst in New York City?«
»Ja,
seit ein paar Monaten.«
»Ich
habe da auch mal ein paar Monate gewohnt«, sagt John B. »Lower East, hab mir fast den Arsch abgefroren. Das war im Januar,
Februar, vor zehn, zwölf Jahren. Wohnen deine Frau und deine Tochter auch
dort... eigentlich? Wenn sie nicht unterwegs auf der Piste sind?«
Ich
beschließe, die Dinge nicht zu verkomplizieren, und bestätige, dass es so ist.
Aber nicht Lower East. Er
nickt und trinkt den Rest aus seiner Bierdose. Drückt sie zusammen und stopft
sie zurück in den Rucksack. Eine Weile sitzen wir schweigend nebeneinander.
»Und
du willst sie wirklich gern finden?«, fragt er.
»Ja«,
bestätige ich. »Das will ich.«
Er
nickt. »Mein Problem ist, dass keine meiner Frauen auch nur meinen Schatten
sehen will. Und meine Kinder auch kaum. Wobei ich leider zugeben muss, dass ich sie verstehe.«
»Wenn
du nach jemandem in Meredith suchen müsstest«, frage ich, »wo würdest du
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