Nesser, Hakan
momentan aus mir herauszuholen
versuche, aber Der springende Punkt, das
dicke Romanmanuskript, an dem ich vor Sarahs Verschwinden saß, wird nie das
Tageslicht erblicken, das ist mir klar. Unter keinen Umständen.
Auch
mein öffentliches Leben war mit diesem Datum beendet; Journalisten und
Kulturleute hörten auf anzurufen, ich bekam keine Anfragen mehr bezüglich
Artikeln, Lesungen oder Podiumsdiskussionen. Ich weiß, dass meine Agentin
Lucienne Bergson hinter diesem Schweigen stand, sie hatte mich angerufen,
sobald sie erfahren hatte, was passiert war, und nachdem sie ihre Anteilnahme
und ihren Schock ausgedrückt hatte, fragte sie mich, wie ich es gern haben
wollte. Ich antwortete, ohne zu zögern, dass ich bis auf weiteres keinerlei
sogenannte Autorenaufträge haben wollte.
Und
so kam es auch, und sowohl in Hinblick auf Winnies Zustand als auch in
Anbetracht anderer Dinge habe ich nie Grund gehabt, meinen Entschluss zu
bereuen. Erst Mitte August wurde ich ein wenig an mein früheres Leben
erinnert, als ich eine Email von der Kulturmitarbeiterin einer kleinen Stadt
erhielt, in der ich früher an einer Diskussionsrunde teilgenom men hatte. Offenbar wusste sie nicht, was mit unserer Tochter
passiert war, sie fragte mich geraderaus, ob ich Zeit für einen Autorenauftritt
Mitte September habe. Das sei zwar sehr kurzfristig, wofür sie sich gleich
entschuldigte, aber man habe festgestellt, dass nur noch für diese Art von
Veranstaltungen Geld im Stadtbudget vorhanden war. Ihr hatte mein letzter
Besuch, der vier Jahre zurücklag, außerordentlich gefallen. Und anzufragen,
das kostete ja nichts, oder?
Das
aktuelle Datum war ein Samstag, und ohne weiter nachzudenken, mailte ich
zurück und versprach zu kommen. Als der Tag sich näherte, ich denke, es war der
13. September, spürte ich trotz allem eine gewisse Reue hinsichtlich der Zusage.
Worüber sollte ich sprechen? Welche Texte sollte ich lesen? Mein letzter Roman
war zu diesem Zeitpunkt zwei Jahre alt; wenn ein Autor sich auf eine Bühne
stellt, wird erwartet, dass er irgendetwas Neues im Koffer hat.
Erst
am Freitagabend beschloss ich, einen Roman in Arbeit vorzustellen, wie man das
nennt. Ich suchte ein Kapitel aus Der springende Punkt heraus,
machte zwei oder drei Korrekturen, las laut für mich selbst eine halbe Stunde
lang zur Probe und dachte, dass es sich zumindest nicht um irgendwelche Reste
handelte.
Das
Ganze lief besser ab, als ich befürchtet hatte. Ich trat in der Stadtbücherei
selbst auf, am selben Ort, an dem ich vier Jahre zuvor gestanden hatte, und das
Publikum - so um die fünfzig Personen - schien meine Vorstellung zu schätzen.
Ich weiß nicht, wie viele wussten, was mit meiner Tochter passiert war, aber
als es an der Zeit für Fragen und Antworten war, gab es niemanden, der dieses
Thema aufgriff. Erst hinterher, als ich meine alten Bücher signierte, die der
ortsansässige Buchhändler herbeigeschleppt hatte, gab es ein merkwürdiges
Erlebnis.
Als
Allerletzte in der Signierschlange stand eine Frau in den Fünfzigern, und als
sie meinen Namenszug in ihrem Buch erhalten hatte, bat sie darum, noch ganz
kurz mit mir allein sprechen zu dürfen. Nach kurzem Zögern tat ich ihr den
Gefallen, und wir zogen uns hinter ein paar Bücherregale zurück. Sie senkte
ihre Stimme und legte mir die Hand auf den Arm.
»Ich
schätze Ihre Bücher sehr«, sagte sie. »Aber darum geht es nicht. Es geht um
Ihre Tochter.«
Ich
gab keine Antwort. Sie fuhr fort. »Ich selbst habe einen Sohn verloren, das ist
viele Jahre her, aber ich weiß, wie weh das tut. Ich bin sonst nicht
hellseherisch veranlagt, aber ich habe alles über Ihren Fall gelesen, und ich
habe eine Information.«
»Eine
Information?«, fragte ich.
Sie
nickte. »Eine Information. Bitte fragen Sie mich nicht, woher ich sie habe,
aber ich möchte, dass Sie mich ernst nehmen. Ich will keine Zeit mit allen
möglichen Erklärungen vergeuden - aber ich kenne das Autokennzeichen.«
»Wie
bitte?«
»Ich
kenne das amtliche Kennzeichen des Autos, in dem Ihre Tochter verschwunden ist.«
Ich
erinnere mich nicht mehr daran, was ich darauf erwidert habe, ob ich überhaupt
etwas gesagt habe, aber sie überreichte mir jedenfalls ein doppelt gefaltetes
Stück Papier, das sie die ganze Zeit in der Hand gehalten hatte, entschuldigte
sich dafür, sich mir aufgedrängt zu haben, und bevor ich wusste, was geschah,
hatte sie mich und die Stadtbibliothek verlassen.
Der
Gedanke, sie könnte verrückt sein oder zumindest
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