Nesser, Hakan
bereits
widerfahren war -, war Grund genug für ihr Handeln. Und für meines.
Aber
wenn ihr klar war, dass Aron Fischer dahintersteckte, in welcher Weise
veränderte das dann die Lage?
Radikal,
ich kann keine andere Antwort finden. Die schrecklichere Frage ist die nach
dem Wie, das ist sie wirklich. Ich
trinke einen Schluck Bier. Ahnte sie es nur und wurde dann mit der Zeit ihrer
Sache sicher? Ein langsamer, gärender Prozess, vom Misstrauen bis zur Einsicht.
Kann es so abgelaufen sein?
Und
wenn ja, wann dann? Stand sie bereits
in Kontakt mit ihm?
War
es das, was tief in ihrem Schweigen verborgen lag bei unseren Spaziergängen in
Rozenhejm? Hielt er sie in irgendeiner Weise unterrichtet? Ja, weiß Gott,
dieses neue Licht blendet mich. Ich vermag nicht länger als fünf, zehn
Sekunden am Stück klar zu denken. Dann zerbirst alles, und ich kehre auf Start
zurück.
Jetzt
weiß ich, dass Sarah lebt.
Bekam
sie nach und nach kleine Tipps? Kleine Hinweise? Vielleicht das ganze Jahr
über, und dann schließlich die Bestätigung nach ein paar Wochen in New York?
Von
jemandem im Pastis? Von Geraldine Grimaux in der Perry Street? Hat er sie so unter Kontrolle gehabt?
Und
wenn sie auch nur im Ansatz die Wahrheit ahnte, dann wusste sie, wozu er in der
Lage war.
Kann
es so gewesen sein? Kann die Realität tatsächlich am 5. Mai 2006 so ausgesehen
haben? Winnies Realität. Ich öffne ein weiteres Bier und zünde mir eine der
Zigaretten an, noch aus dem Päckchen, das ich vor einer Woche in Meredith gekauft
habe.
Sarah
ist in Meredith?
Wozu
dieser ganze Hokuspokus? Was gibt es noch alles, was Winnie nicht erzählt hat?
Wie nah muss sie einem psychischen Zusammenbruch gewesen sein?
Langsam
wird mir klar, dass ich nicht weiß, wer sie ist. Wer ist Winnie Mason, meine
Ehefrau? Ursula Winnifred Nedomanska-Fischer? Ich sitze an einem Samstagabend
im Oktober allein in einem der heruntergekommensten und widerlichsten
Motelzimmer in den ganzen USA. Ich trinke Bier und rauche Zigaretten und fange
an zu begreifen, dass die Frau, mit der ich sieben Jahre zusammengelebt habe,
eine vollkommen Fremde für mich ist. Das ist nicht nur eine drastische
Formulierung, das ist eine legitime Einsicht, und die bekommt mir gar nicht
gut.
Bekommt
mir ganz und gar nicht gut.
Und
Sarah?
Sarah!
Um
zwei Uhr bin ich immer noch nicht eingeschlafen, aber ich habe das Bier
ausgetrunken und die Zigaretten aufgeraucht.
Die Country & Western-Musik von
Nummer drei läuft immer noch. Ich habe unter lauwarmem Wasser geduscht, vier
Seiten mit Fragen, Vermutungen und Antworten vollgeschrieben, sie aus dem Heft
gerissen und zerrissen in den Papierkorb geworfen. Ich habe versucht, fern zu
gucken, aber das Einzige, das ich hereingekriegt habe, war ein
ultrachristlicher Propagandasender. Ein jubelnder, sich wiegender Chor mit
Leuten aus allen Rassen und Lebensumständen singt ekstatische Erlösungslieder,
und eine Handvoll zweifelhafter Prediger mit lockigem Haar wechselt sich dabei
ab, Jesus Christus und den Präsidenten des Landes ungefähr in der gleichen
Tonart zu preisen.
God
Bless America, denke ich resigniert. Ich bin froh,
dass ich keinen Zugang zu irgendeiner Waffe habe. Hätte ich das, ich würde
sicher Gebrauch von ihr machen und mir im Suff und in der Verzweiflung den
Schädel wegschießen.
Drüben
in der Rezeption ist das Licht aus. Mehr Bier ist nicht zu kriegen. Der Regen
fällt unerbittlich weiter, und ein anderer Hund hat angefangen zu bellen.
35
Das
Haus liegt tatsächlich abgeschieden, aber es ist nicht schwer zu finden. Ich
nehme die Straße 14 von Delhi aus, und ein paar Meilen nach der Ortschaft
Treadwell biege ich rechts auf die Trout Creek
Road ab. Fahre zehn Minuten lang einen Kiesweg durch
hügeliges Waldgelände entlang, und dann taucht kurz hinter einem verfallenen
Schuppen mit der Reklame für Duffy Andersons Invincible Root Beer
am Giebel rechts ein Schild auf - The Holy
Grudge. Ein paar Reifenspuren mit einem Grasstreifen in
der Mitte führen zwischen den Bäumen weiter, und nach hundert Metern bin ich
angekommen. Ein einfaches, aber ziemlich großes Haus mit zwei Stockwerken.
Weiße, frisch gestrichene Holzlatten, eine überdachte Veranda auf der Vorderseite
und ein wild gewachsenes Grundstück drumherum, ungefähr so groß wie ein halber
Fußballplatz. Soweit ich auf der Karte erkennen kann, befinde ich mich nicht
einmal zehn Meilen von Meredith entfernt. Etwas weiter von Haughtaling
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