Nesser, Hakan
Simenon Fischer wird zur Sicherheitsverwahrung im
geschlossenen psychiatrischen Vollzug mit verschärften Entlassungsbedingungen
verurteilt und sofort in die ausbruchssichere Anstalt in Kadersbad in der Nähe
von Nürnberg überführt.
Da
seine Frau um ihr Leben fürchtet, wird ihr eine neue Identität bewilligt, und
vom 1. Dezember 1997 an ist sie in keinem Register mehr zu finden.
Zur
selben Zeit (aber laut einer ganz anderen Quelle) zieht eine gewisse Winnie
Mason in die Markgrafenstraße 22 im Stadtteil Mitte von Berlin.
So
- und nicht anders - hat es sich zugetragen, und es hat Mr. Edwards (oder
Inspektor Tupolsky) nicht mehr als drei Tage gekostet, die Wahrheit ans Licht
zu bringen.
»Wobei
es natürlich wünschenswert gewesen wäre, sie hätten es schon früher
herausgefunden.«
Ich
nicke und setze mich in meinem Sessel aufrecht hin. Mr. Edwards steht vom
Schreibtisch auf; Trouble bemerkt
die veränderten Positionen im Raum und zieht sich mit überraschender
Geschmeidigkeit in eine leere Spalte im Bücherregal zurück. Dieses verläuft
vom Boden bis zur Decke und bedeckt eine ganze Wand - in erster Linie
Geschichte und Kriminologie, aber auch ein Teil Belletristik.
»Was
das Verschwinden Ihrer Tochter betrifft. Mit diesen Informationen hätten die
Ermittlungen eine ganz andere Richtung genommen. Oder was glauben Sie?«
Ich
antworte nicht. Wir haben schon früher darüber gesprochen, und es ist, wie es
ist. Es gab nie einen Grund für die Polizei in Saaren, Winnies Identität in
Frage zu stellen.
Und
sie hat nie etwas erzählt.
Sie
hat sich entschieden zu schweigen, und ihre Entscheidung lässt auch mich
schweigen. Hindert mich daran, Mr. Edwards' rhetorische Frage zu kommentieren.
Es sind andere Fragen, die mich beschäftigen. Die mich in den letzten Tagen
ununterbrochen beschäftigt haben.
Warum?
Warum hat Winnie versucht, sich lieber das Leben zu nehmen, als von Aron
Fischer zu berichten?
Ich
begreife es nicht. Ist es fassbar? Nachts sind es vor allem diese Rätsel, die
mich wach im Bett liegen lassen. Was können wir über die grundlegenden
Beweggründe eines Menschen wissen? Was weiß ich von Winnies innerstem wundem
Punkt?
»Nun
ja«, sagt Mr. Edwards, lässt sich in den anderen Ledersessel im Zimmer fallen
und zündet sich eine seiner schmalen Zigarren an. »Wir können natürlich
niemandem einen Vorwurf machen. Dafür gibt es keinen Grund.«
Dem
stimme ich zu. Dafür gibt es keinen Grund. »Er ist also im Oktober 2005
freigekommen?«, frage ich.
Mr.
Edwards nickt. »Genau vor zwei Jahren. Saß also nicht mehr als acht Jahre ein.
Man kann der Ansicht sein, dass dies ein geringer Preis dafür ist, seine
Tochter umgebracht zu haben. Hier im Lande wäre das anders.«
»Und
sie noch zu verbrennen«, fügt er hinzu, als ich nichts einzuwenden habe. »Woher
hatte er eigentlich das Benzin?«
»Reservekanister
im Auto«, schlage ich vor. »Hatte Tupolsky irgendwelche Angaben zu ihm?«
»Leider
nicht viel«, seufzt Mr. Edwards und schickt eine Rauchwolke zur Decke. »Er
scheint ein paar Wochen in Hamburg gelebt zu haben, unter einer Adresse, die
er im Krankenhaus angegeben hat. Aber seit Dezember 2005 gibt es keinerlei
Spur mehr von ihm. Ja, man hat natürlich nicht so gründlich nach ihm gesucht.«
»Gab
vielleicht keinen Grund dafür?«, frage ich.
»Vielleicht
nicht«, stellt Mr. Edwards fest und schaut finster drein. »Nein, es gibt
eigentlich nichts, was darauf hindeutet, dass er es war. Nichts
Substantielles.«
»Vollkommen
richtig«, sage ich. »Nichts Substantielles.«
Mr.
Edwards räuspert sich und nimmt die Brille ab. »Es steht Ihnen natürlich frei,
sich an die Polizei zu wenden. Obwohl ich nicht so recht weiß, wozu das gut
sein soll. Und wenn...«
»Ja?«
»Wenn
es wirklich so ist, dass er dahintersteckt, dann... ja, darüber haben wir ja
schon gesprochen.«
Genau,
denke ich. Darüber haben wir gesprochen. Über die Risiken, die das beinhaltet.
Die Wahrscheinlichkeit des einen und die Wahrscheinlichkeit des anderen. Aber
ich weiß nicht, es ist lange her, dass ich damit prahlen konnte, klar zu denken.
Ich habe nur mein Bauchgefühl, nach dem ich gehen kann, und das sagt definitiv
nein, was die Polizei betrifft. Allein der Gedanke, durch die Türen des
Polizeireviers auf der Zehnten Straße zu treten, lässt mich frösteln, und die
Geschichte meines Leidens einem halb interessierten, halb skeptischen Detective Sergeant vorzutragen... nein, ausgeschlossen.
»Was
hat er noch
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