Nesser, Hakan
Hollow.
Luftlinie.
Ich
stelle den Wagen vor der Veranda ab. Steige aus und schließe die Tür auf. Muss
mit der Schulter dagegendrücken, um sie auf zu kriegen. Romario hat gesagt,
dass das immer so ist.
Ich
inspiziere das Haus in wenigen Minuten. Es ist sauber und hübsch, es gibt
keinen Zweifel, dass ich dankbar dafür bin, mein Aufenthalt im Motel von
Arkville hängt noch wie eine stinkende Wolke über mir.
Das
Erdgeschoss besteht aus einem einzigen großen Raum. Küchenabschnitt,
Essbereich, einige unterschiedliche Sessel um einen Tisch aus Metall und Glas.
Großer, gemauerter Kamin, neu gekacheltes Badezimmer. Einige etwas obskure
Gerätschaften an den Wänden, das ist das Einzige, was ein wenig stört. Am
Schnabel eines ausgestopften Adlers hängt ein kleines Emailschild mit der
Botschaft: All You Need Is Love.
Im
ersten Stock befinden sich ein Atelier und zwei Schlafzimmer, ich nehme das
hinterste, kleinste, laut der Anweisungen, die ich von Romario bekommen habe.
Trage meine Tasche hinauf, mache das Bett, gehe wieder nach unten und stelle
Wasser und Strom an. Setze Kaffee auf und packe die wenigen Dinge, die ich in
einem Supermarkt in Delhi gekauft habe, in den Kühlschrank.
Dann
nehme ich die Kaffeetasse und lasse mich auf einem Schaukelstuhl draußen auf
der Veranda nieder. Es ist zehn Minuten nach eins. Unter dem klaren Himmel sehe
ich einen Vogelschwarm nach Süden ziehen. In weiter Entfernung ist das Geräusch
einer Motorsäge zu vernehmen. Die Luft scheint übersättigt von Sauerstoff zu
sein, nach nur wenigen Minuten ist mir klar, dass ich auf dem Schaukelstuhl
einschlafen werde.
Ich
träume von Venedig.
Nicht
von diesem Zwischenfall im Restaurant - der jetzt eine ganz andere Bedeutung
bekommen hat, ich habe bereits darüber nachgedacht -, sondern von einem
anderen Augenblick.
Winnie
liegt nackt auf dem Bett in unserem Hotelzimmer. Es ist unser letzter Abend,
wir haben uns geliebt. Ich komme aus dem Badezimmer, bleibe in der Türöffnung
stehen und betrachte sie.
Ich
sehe sie im Traum genauso, wie ich sie in der Realität gesehen habe, und mir
kommen genau die gleichen Gedanken wie damals.
Dieser
Augenblick ist bereits vorüber.
Ich
werde ihn niemals einfangen können.
Ich
werde niemals irgendetwas einfangen können.
Alles,
was wir sehen und worüber wir uns wundern oder in das wir uns verlieben, ist
bereits geschehen. Es ist auf dem Weg fort von uns, für immer und ewig.
In
dem Moment, als mein Blick meine Frau erreicht, ist sie immer schon eine
andere. Oder, besser gesagt, wenn ihr Bild sich auf meiner Netzhaut abzeichnet
- was natürlich eine korrektere Beschreibung ist -, dann ist es bereits zu
spät.
Ich
weiß nicht, warum mir dieser vielleicht triviale Gedanke in diesem Hotelzimmer
in Venedig gekommen ist, aber ich weiß, dass er mich unglaublich traurig
gemacht hat.
Er
hat mich auf der Schwelle zum Bad festgenagelt, und er nagelt mich auch jetzt
im Traum fest. Als ich nach fast einer Stunde im Schaukelstuhl erwache, stehe
ich immer noch da und betrachte die betörend schöne - und bereits verschwundene
- Nacktheit meiner Frau in dem mit Sicherheit immer noch liebeswarmen
Hotelbett, und eine Sekunde lang habe ich keine Ahnung, in was für einer Welt
ich mich befinde.
Wer
ich bin oder wem dieser Traum gehört; ich bin nur jemand, der auf einer
Veranda in einem Haus in einem namenlosen Wald aufwacht. Der Himmel zwischen
den Baumkronen erscheint hoch und klar, es duftet nach Wald, und das Geräusch
von etwas, das ich nicht identifizieren kann, erstirbt in der Ferne. Ich friere
ein wenig.
Ich
suche einen Pullover heraus, sitze noch eine Weile auf dem Schaukelstuhl und
trinke noch eine Tasse Kaffee, während ich die ersten Schritte eines
hoffnungslosen Planes skizziere.
36
Der
Traurige Berg hat seine Position nicht verändert, aber ich habe vergessen, wie
sie heißt.
Gegen
meinen Willen muss ich dem Buffalo Zack's
noch einmal einen Besuch abstatten. Aber es gibt keine bessere Lösung. Ich
muss in Kontakt mit Fred Sykes kommen, und die Information, die ich vom
Traurigen Berg vor einer Woche bekam, ist mir leider aus dem Gedächtnis
entschwunden, und der Zettel mit den Aufzeichnungen ist unauffindbar.
»Fred
Sykes?«, fragt sie und betrachtet mich misstrauisch. »Ziemlich viel Wirbel um
den Kerl in diesen Tagen.«
»Ja?«,
sage ich. »Nun ja, als ich das letzte Mal hier war, habe ich nicht die
Gelegenheit gehabt, mit ihm zu sprechen. Was hatten Sie gesagt, wo ich
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