Nesser, Hakan
meine Tatkraft ist außerdem ziemlich
geschwächt, und bevor ich Kingston erreicht habe, steht der Entschluss fest. Es
wird eine Nacht in irgendeinem Motel am Straßenrand.
Zu
dieser Jahreszeit sollte es nicht schwer sein, ein Zimmer zu finden. In Ashokan
oder Margaretsville oder Andes. Oder
was auch immer auftauchen möge.
Es
wird Arkville.
Es
ist halb neun, als ich von der Straße abbiege und vor dem Belvedere Motel parke. Soweit ich sehen kann, gibt es zwölf Zimmer zu
vermieten, und soweit ich sehen kann, sind elf von ihnen frei. Vor Nummer drei
steht ein großer, mitgenommener Cadillac, vor allen anderen ist der Platz leer.
Ich
laufe die wenigen Meter durch den Regen und komme in eine nur schwach
beleuchtete Rezeption. Schlage auf eine Metallklingel auf dem Tresen, und nach
ein paar Minuten taucht ein älterer Mann in Lederweste und mit grauem
Pferdeschwanz auf. Ich bitte um ein Zimmer für eine Nacht. Er erklärt, dass ich
Nummer vier haben kann und dass es sechzig Dollar kostet, bar, Bezahlung im
Voraus.
Er
trägt eine dunkelbraune Sonnenbrille; als er meine drei Zwanzigdollarscheine
entgegennimmt, wird mir klar, dass er blind ist.
»Der
Schlüssel steckt in der Tür«, erklärt er mir. »Bier und Sandwiches gibt es im
Automaten hinter Ihnen.«
Ich
bedanke mich. Er zündet sich eine Zigarette an und verschwindet durch die enge
Türöffnung, durch die er auch gekommen ist. Es gelingt mir, dem genannten
Automaten zwei Bier und ein Putensandwich abzuluchsen, dann laufe ich erneut
durch den Regen und nehme mein Zimmer in Besitz.
Es
ist ungefähr zehn Quadratmeter groß und riecht scharf nach irgendeinem
Reinigungsmittel. Ein Bett, ein Tisch, ein Stuhl, alles in unterschiedlichen
Farben. Eine Stehlampe neben dem Bett, ein Fernseher und eine Bibel, auf die
jemand »fuck« geschrieben hat. Das Badezimmer liegt rechts, der Duschvorhang
hängt an drei Haken statt an acht und ist dekoriert mit einer nackten
Schwarzen. Das Waschbecken ist vergilbt. Ein kleines Stück Seife gibt es mit
einem eingetrockneten Schamhaar. Durch die Wand kann ich von Nummer 3 Musik
hören. Country &
Western. God Bless America,
denke ich.
Ich
lege mich aufs Bett und starre zehn Minuten lang zur Decke. Dann setze ich mich
an den Tisch, esse mein Sandwich auf und trinke meine Biere. Der Regen prasselt
auf die Fensterbank und auf ein Blechdach draußen im Dunkel. Ein Hund bellt in
der Ferne.
Wenn
ich mir jemals das Leben nehmen sollte, dann wird es in einem Zimmer wie diesem
sein.
Ich
laufe durch den Regen zurück zur Rezeption. Kaufe sechs Biere als Schutz gegen
die Dämonen der Nacht und kehre in mein Zimmer zurück. Öffne die erste Dose,
setze mich mit Notizheft und Stift an den Tisch, hole zweimal tief Luft und
konzentriere mich.
Konzentriere
mich.
Ist
er es?
Das
schreibe ich ganz oben auf eine rechte Seite. Es ist die erste, entscheidende
Frage, und diese Frage kann ich nicht beantworten. Ich habe sie wie einen
dumpfen, aber hartnäckigen Zahnschmerz sechs Tage mit mir herumgetragen, sie
hat mich nicht eine einzige schmerzhafte Sekunde verlassen, und die Antwort
springt in einem steten, sinnlosen Wechselstrom von der einen Möglichkeit zur
anderen.
Ja
oder nein, ja oder nein.
Ich
entscheide mich für ein hypothetisches Ja. Der
Mann mit dem grünen Auto ist identisch mit Aron Simenon Fischer. Er ist es, der
hinter Winnies Verschwinden vor zwei Wochen steckt. Er ist es, der unser Kind
gestohlen hat.
Es
ist derselbe Aron Simenon Fischer, der vor zehn Jahren Winnies erste Tochter
getötet hat, der als schwer geisteskrank und außerstande, die Verantwortung für
seine Taten zu übernehmen, angesehen wurde. Er ist es, der Sarah jetzt seit
mehr als siebzehn Monaten in seiner Gewalt hat, und er ist es, der auch Winnie
in seiner Gewalt hat.
Rein
hypothetisch. Ich trinke einen Schluck Bier. Die nächste Frage ist eine
Folgefrage, und sie kommt aus einer ganz anderen Richtung. Taucht aus einer
anderen Quelle mit noch dunklerem Wasser auf.
Hat
sie es gewusst?
Oder: Seit wann hat sie es gewusst?
Oder: Hat sie es von Anfang an gewusst?
Ich
bekomme keine Ordnung in die Sache. Weiß auch nicht, was ich tun soll, um sie
zu bekommen. Als ich Winnie in der Badewanne fand, habe ich ihre Motive niemals
genauer hinterfragt. Natürlich nicht, warum hätte ich es tun sollen? Ich war
schockiert und erschrocken, aber eigentlich nicht verwundert; die Aussicht,
noch eine Tochter zu verlieren - was ihr mit großer Wahrscheinlichkeit
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