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Nesser, Hakan

Nesser, Hakan

Titel: Nesser, Hakan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Perspektive des Gaertners
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Gesichtszüge glätten sich für eine
Sekunde. Sein wässriger Blick wird traurig.
    »Er
hat das Leben meiner Schwester kaputt gemacht.«
    »Ihrer
Schwester?«
    Er
nickt finster. »Sie waren zusammen.«
    Ich
warte ab.
    »Verlobt
und all das. Aber er hat sie für so ein Luder aus Albany verlassen. In dem Jahr, bevor er in den Krieg gezogen ist.
Sie wollten heiraten, aber er hat sie einfach sitzen lassen.«
    Ich
erinnere mich an das Gespräch mit seiner Mutter auf der Veranda.
    »Was
ist mit ihr passiert? Ich meine, mit Ihrer Schwester?«
    Er
blinzelt ein paar Mal und ruckt nervös mit dem Kopf, bevor er antwortet. »Sie
ist gestorben«, sagt er. »Ist in die Fälle gesprungen.«
    Er
trinkt einen großen Schluck.
    »In
die Fälle?«
    »Niagara.
Sie wollten ihre Flitterwochen da verbringen.«
    Ich
denke eine Weile nach. Und trotzdem fährst du zu ihnen und hilfst ihnen, wenn
Not am Mann ist?, denke ich. Fällst Bäume für einen Mann, der deine eigene
Schwester verraten hat, so dass sie sich ertränkt hat.
    »Ihre
Mutter hat mir erzählt, sie wäre in den Krieg gezogen«, sage ich.
    Fred
Sykes schnaubt. »Mama bildet sich alles Mögliche ein. Sie wird im Januar
achtundneunzig.«
    Ich
nicke. In dieser Gegend scheint wohl ziemlich viel trostlos zu sein. Was nützt
es, achtundneunzig zu werden, wenn die Umstände so sind? Betrug und Selbstmord
und Elend. Oder ist das vielleicht die Strafe für ein richtig langes Leben?
    »Wie
hieß sie?«, frage ich. »Ihre Schwester.«
    »Sie
hieß Vera. Nach Vera Lynn.«
    Das
auch noch. Ich spüre, wie mich der Mut verlässt. Es geschieht im gleichen Maße,
wie die Dämmerung im Rotten Goose zunimmt,
im gleichen Maße, wie der Pegel in Fred Sykes' Bierglas sinkt. Jetzt ist es
wieder ganz leer.
    »Noch
eines?«, frage ich dennoch.
    »Vielleicht
ein letztes«, sagt Fred Sykes und kratzt sich nachdenklich die Bartstoppeln.
»Aber dann muss ich nach Hause und einiges tun.«
    Ich
frage nicht, was er daheim zu tun gedenkt. Zu tun gibt es genug.
    Ich
gehe zur Bar und bestelle noch ein Bier. Und bitte um die Rechnung.
     
    Als
ich zurück im Holy Grudge bin
- nachdem ich Fred Sykes bei seiner Mutter in der Timberton Road abgesetzt habe -, ist es halb acht und dunkel geworden. Ein
böiger Wind schüttelt die Baumkronen, als ich aus dem Auto steige, und gerade
als ich im Haus bin und den Lichtschalter gefunden habe, klingelt das Telefon.
Nicht mein Handy - hier gibt es kein Netz -, sondern das im Haus. Ich zögere
eine Sekunde, dann gehe ich ran. Es ist Bob.
    »Romario
hat eine Sache vergessen«, sagt er. »Du hast ein Gewehr unter dem Bett liegen.«
    »Ein
Gewehr?«, frage ich nach.
    »Ja.
Ein ziemlich altes Remington Shackville.
Doppelläufig. Es können Bären kommen, weißt du, man muss sich verteidigen
können.«
    »Ja?«
    »Die
Munition liegt in einer Blechdose im Vorratsschrank. Auf dem Deckel steht Marbury's
Cookies.«
    » Danke,
Bob, aber...«
    »Kein
Aber. Du bist bestimmt Pazifist und Buddhist und was weiß ich noch alles, aber
das zählt in dieser Gegend nicht. Geh raus und mach ein paar Probeschüsse auf
einen Baum, damit du weißt, wie es sich anfühlt. Und wie geht es sonst so?«
    »Alles
gut«, sage ich. »Alles in Butter.«
    »Dann
mal raus und ein paar Probeschüsse gemacht«, ermahnt er mich fröhlich. »Wir
rufen im Laufe der Woche noch einmal an. Sonst noch Fragen?«
    »Nein«,
sage ich. »Alles in Ordnung.«
    »Und
das Buch?«
    »Was?«
    »Das
Buch? Wie geht es voran mit dem Schreiben?«
    »Ausgezeichnet«,
versichere ich ihm. »Es läuft ausgezeichnet.«
     
    Dann
kommt die Nacht.
    Sie
ist ein lebendiges Wesen. Ein missgebildetes, schlecht gelauntes Raubtier, das
ich viel zu lange schon - Wochen, Monate, Jahre - auf hungrigem Abstand
gehalten habe, das jetzt aber endlich frei kommt. Es fällt mich mit seiner
ganzen Kraft und der faktischen Zielstrebigkeit eines tödlichen Virus an. Ich
weiß, das ist eine alberne Mischung von Bildern - ein Raubtier und ein Virus
-, aber ich habe kein Bier und keine Zigaretten, um mich damit zu betäuben,
wie im Motel in Arkville. Ich bin ihr ausgeliefert und wehrlos; eine zähe Blase
aus Schmerzen, Sehnsucht und Trauer platzt in mir auf, und ich gebe nach. Ich
liege in der Dunkelheit in meinem Bett im hintersten Zimmer im ersten Stock im Holy Grudge, Upstate New
York, einen halben Meter oberhalb eines doppelläufigen Remington Shackville, ich werfe das Handtuch, und das Weinen lässt
mich erbeben.
    Und
die Dunkelheit ist nicht nur die

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